München im Ersten Weltkrieg:Hurra-Patriotismus, Hunger und Hysterie

München im Ersten Weltkrieg: In Hallen und Schulen wurden Lazarette eingerichtet.

In Hallen und Schulen wurden Lazarette eingerichtet.

(Foto: Stadtarchiv München)

Schulen werden zu Kasernen, vermeintliche Spione gejagt und einfachste Lebensmittel zum Luxus: Obwohl in München nicht gekämpft worden ist, hat der Erste Weltkrieg den Alltag beherrscht. Nun beschreibt eine Ausstellung das Leben in der militarisierten Stadt.

Von Jakob Wetzel

Es ist nur ein Mantel, doch er wird ihm beinahe zum Verhängnis. Es ist Spätsommer 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Ein Mann schlendert durch den Englischen Garten in München, er setzt sich auf eine Parkbank, weiter tut er nichts. Doch er trägt den Mantel eines Schneiders aus Lyon. Es dauert nicht lange, und er ist umringt von Menschen. "Ein Franzose", rufen sie, "ein Spion!" Immer mehr Passanten bleiben stehen, sie werden aggressiv, bedrängen ihn, verfolgen ihn. Erst als er einem Polizisten seinen Ausweis zeigt, zerstreut sich der Mob.

Ähnlich ergeht es einem Mann in der Neuhauser Straße. Sein Fehler: Er trägt karierte Kleidung. "Ein Engländer!", hallt es bald durch die Gassen. Und auch Kathi Kobus, die frühere Wirtin des "Simplicissimus" in der Türkenstraße, wird angegriffen: Misstrauische Münchner halten sie für einen Mann in Frauenkleidern, einen serbischen Spion. Sie versuchen, ihr die Haare vom Kopf und die vermeintlich falschen Brüste vom Leib zu reißen. Erst als sie merken, dass beides echt ist, lassen sie von ihr ab.

München im Ersten Weltkrieg: Das ist eine Stadt, in der kein Soldat gegen den anderen kämpft, und die doch vom Krieg durchdrungen ist. Wie sehr, das zeigt von Montag, 9. Dezember, bis Sonntag, 12. Januar, eine Ausstellung im Gasteig. Es ist viel Militärisches in ihr zu sehen, Urkunden, Orden, Aufnahmen von Soldaten. Aber die Ausstellung gibt auch den Blick frei auf das alltägliche Leben in einer militarisierten Stadt. Sie zeigt Fotografien von Krieg spielenden Kindern und in der Rüstungsindustrie arbeitenden Frauen. Sie präsentiert Zeitungsberichte über patriotische Schlägereien, zeigt Lebensmittelmarken und pazifistische Flugblätter ebenso wie Werbeplakate für Kriegsanleihen und Annoncen für Arm- und Beinprothesen.

Von 3000 Soldaten überleben 600

Die meisten Exponate stammen aus der Sammlung von Hermann Wilhelm, dem Kurator der Ausstellung, und dem Archiv des Haidhausen-Museums, das er leitet. "Es ist bewegend zu sehen, wie alles kippt", sagt Wilhelm, der auch ein Buch zur Ausstellung verfasst hat. "An einem Tag sitzen die Leute noch gemütlich zusammen, zwei Tage später sind sie beim Militär, womöglich noch freiwillig, dann bekommen sie zwei Wochen Ausbildung, und dann geht es ins Gefecht. Von 3000 Soldaten überleben dieses erste Gefecht vielleicht nur 600. Und dann verändert sich etwas."

Wie sich die Stimmung in München dreht, das zeigt die Ausstellung eindrucksvoll. Wenige Wochen nach Beginn des Krieges ist die Stadt bereits wie ausgewechselt. Schulen werden zu Kasernen, Soldaten und Militärfahrzeuge beherrschen das Straßenbild. 52.000 Soldaten sind in der Stadt kaserniert, fast täglich fahren Züge an die Front. Sie sind von außen beschrieben mit Parolen wie "Von München über Metz nach Paris" oder "Schlafwagen mit Münchner HB-Ausschank".

Zwischen Hurra-Patriotismus und Verfolgungswahn

Doch schon jetzt ist die Stimmung labil, sie schwankt zwischen Hurra-Patriotismus und Verfolgungswahn. Bei den Münchner Neuesten Nachrichten treffen im Jahr 1915 derart viele patriotische Gedichte ein, dass die Redaktion ihren Lesern mitteilen muss, dass sie die Einsendungen nicht mehr alle abdrucken kann. Gleichzeitig wird das Wort "Wasserleitung" zum Inbegriff des Schreckens, weil sich die Bürger gegenseitig einreden, feindliche Spione hätten das Trinkwasser mit Cholera-Bakterien verseucht.

Auf alles, was ihnen fremd ist, reagieren die Bürger hysterisch. "Bonbons" und "fruits glacés" verschwinden aus den Schaufenstern. Tageszeitungen erhalten wütende Leserbriefe, wenn sie Anzeigen zum Beispiel für französischen Likör abdrucken. Patrioten fordern die Stadtverwaltung auf, den "Englischen Garten" in "Deutschen Garten" umzubenennen. Und die "Englische Apotheke" in der Theatinerstraße, benannt nach dem katholischen Frauenorden der Englischen Fräulein, ändert ihren Namen vorsorglich in "Engel-Apotheke", um nicht in den Verdacht zu geraten, mit dem Feind zu paktieren.

Strafe auf Kuchenbacken

Als der Krieg schließlich zum Stellungskrieg wird, ist von der Begeisterung in München nichts mehr zu spüren. In der Stadt herrschen zunehmend Hunger und Not; Lebensmittel werden rationiert, Einkaufen wird wegen der vielen Essensmarken zum bürokratischen Irrsinn. Wer Milch zu Butter verarbeitet, wird wegen Verschwendung bestraft, wer es wagt, einen Kuchen zu backen, ebenso.

"Kriegsbrot" besteht aus Kartoffeln und Kleie, "Kriegsmarmelade" aus Karotten. Zeitungen versuchen, ihren Lesern vegetarisches Essen schmackhaft zu machen. Auf dem Viktualienmarkt wird das Fleisch von Dachsen und Eichhörnen verkauft. Bereits im Juni 1916 demonstrieren mehr als 2000 Frauen, Jugendliche und Soldaten in der Innenstadt: Sie hungern.

München im Ersten Weltkrieg: Neugierige drängen sich im September 1914 um einen Trambahn-Lazarettwagen mit Verwundeten.

Neugierige drängen sich im September 1914 um einen Trambahn-Lazarettwagen mit Verwundeten.

(Foto: Archiv des Haidhausen-Museums)

Gleichzeitig erreichen immer mehr Verwundete die Stadt; in Schulen und Bierkellern werden Operationssäle eingerichtet. Um die Verwundeten transportieren zu können, werden Notgleise durch die Stadt gelegt, befahren von notdürftig umgerüsteten Lazarett-Trambahnen. Auch die Zahl der Toten steigt, immer mehr schwarz gekleidete Frauen säumen die Straßen.

In einem verzweifelten Versuch, die Stimmung zu retten, verbietet das Kriegsministerium, Listen der Gefallenen zu veröffentlichen. Die Münchner Illustrierte Zeitung druckt daraufhin unter der Rubrik "Deutscher Heldensaal" tägliche Bildergalerien.

Männer-Bastionen fallen

Und inmitten all des Elends zeigt die Ausstellung das Bild einer stolzen uniformierten Frau: Sie ist Schaffnerin bei der Straßenbahn, eine der ersten in München. Vor dem Krieg war der Beruf den Männern vorbehalten, jetzt liegen die Männer im Schützengraben, die Frauen übernehmen. Sie arbeiten zunächst als Schaffnerinnen, Pförtnerinnen oder Briefträgerinnen. Doch bald lässt zum Beispiel die Bayerische Eisenbahn auch schwere körperliche Arbeit von Frauen verrichten: Es gibt erstmals Bremserinnen, Lokomotiven-Schmiererinnen, Streckenarbeiterinnen oder auch Weichenstellerinnen. Frühere Bastionen der Männer sind gefallen.

Der Krieg mündet am 7. November 1918 in die Revolution. König Ludwig III. verlässt die Stadt; es ist eine Flucht mit Hindernissen, weil der Wagen des Wittelsbachers aufgebockt und ohne Reifen in der royalen Remise steht, noch dazu ist der "königliche Oberchauffeur" desertiert, und in der Rosenheimer Landstraße landet der abgesetzte Monarch mit seinem Gefährt im Straßengraben. In München hat sich die Stimmung ein letztes Mal im Krieg gedreht, Revolutionäre marschieren auf den Straßen. Und den König zieht ein verdutzter Bauer mit dem Pferdegespann aus dem Dreck.

"Ja, Kinder, es ist Krieg ...!" - München in der Zeit des Ersten Weltkriegs, Ausstellung in der Glashalle im ersten Obergeschoss des Kulturzentrums Gasteig, Montag, 9. Dezember 2013, bis Sonntag, 12. Januar 2014, 8 bis 23 Uhr, Eintritt frei. Hermann Wilhelm, "Ja, Kinder, es ist Krieg ... !" - München im Ersten Weltkrieg, München Verlag, 143 Seiten mit vielen zum Teil farbigen Abbildungen.

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