Homosexualität in München:Stammtisch der Seepferdchen

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Unter der Regenbogenfahne: Auf ihrem oft schmerzlichen Weg zum Coming-out haben sie sich kennengelernt, jetzt treffen sie sich regelmäßig zum Stammtisch. (Foto: Stephan Rumpf)

Schwule Männer, die sich erst mit über 30 Jahren outen, fühlen sich oft alleingelassen. Fünf von ihnen haben sich in einer Selbsthilfegruppe kennengelernt und sind mittlerweile Freunde geworden.

Von Benjamin Stolz, Isarvorstadt

Einmal im Monat treffen sich die Männer, die sich vor wenigen Jahren noch für rosa Seepferdchen hielten. Rund um den Tisch einer Bar im Glockenbachviertel sitzen fünf Schwule, die erst jenseits ihres 30. Geburtstags zum Coming-out - also zum öffentlichen Bekenntnis zu ihrer Homosexualität - bereit waren. Markus Bartsch, den die anderen gerne als den Organisator ihrer Treffen ansehen, platziert ein geschnitztes rosa Seepferdchen aus Holz zwischen den Getränken.

Es ist ein maritimes Zeichen der Erinnerung an die Zeit, als sie vor acht Jahren gemeinsam eine zehnwöchige angeleitete Selbsthilfegruppe besuchten, die ihnen als noch nicht geoutete Schwule einen Schubs ins erfüllte Leben geben sollte. "Ich fühle mich wie in einem Becken voller Olympiaschwimmer und habe selbst gerade mal das Seepferdchen", meinte ein Mitglied damals in Anspielung auf den Erstschwimmerschein für Kinder. Seitdem sind einige der damaligen Novizen enge Freunde geworden, die sich bis heute im Alltag unterstützen. Zwei von der ursprünglichen Truppe haben einander vor Kurzem geheiratet.

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Die Gründe, warum sich Männer erst später im Leben für ein Coming-out entscheiden, sind von biografischen Differenzen und strukturellen Gemeinsamkeiten geprägt. "Wir leben immer noch in einer stramm homophoben Gesellschaft", sagt Christopher Knoll, Psychologe beim Sub, dem Zentrum unter anderem für schwule Männer, das die Selbsthilfegruppe initiiert und angeleitet hat. "Der Wunsch zu verleugnen und zu verdrängen ist extrem groß."

Immer wieder ist in den Geschichten der Männer die Rede von einem Druck, vom metaphorischen, sich aufbauenden "Kartenhaus" und einer Zeit des Versteckens in der eigenen Innenwelt. Nach der Reihe, wie man es sich von einer früheren Selbsthilfegruppe erwartet, beginnen die ehemaligen Seepferdchen ihre Geschichten zu erzählen - routiniert und wohlüberlegt, denn man erzählt sie sich bereits seit Jahren.

Erst dachte ich, ich wäre asexuell. Mittlerweile weiß ich, dass Schwulsein in allen Farben, Größen und Couleurs existiert. Der Regenbogen ist bunt", sagt Markus Bartsch. (Foto: Stephan Rumpf)

Im Jahr 2012, in dem er vierzig wurde, konnte Markus Peick nicht mehr. "Ich bin so lange schon im falschen Leben", schildert er seine Gedanken, "da muss jetzt was passieren." Kurz darauf outet sich der damals mit einer Frau verheiratete Mann und Vater zweier Kinder als schwul. "Ich habe es immer schon gewusst", sagt Peick. Mit 23 outete er sich zum ersten Mal und hatte Beziehungen mit Männern. Auf der Uni lernte er dann doch seine zukünftige Frau kennen.

"Teil der Erklärung dafür ist sicher die Erwartung von außen." 1999 heirateten die beiden, gleich darauf bekamen sie ihr erstes Kind - ein Mädchen mit einer schweren Behinderung. "Da habe ich es nicht übers Herz gebracht zu gehen", erzählt er. Als wenig später noch ein Junge zur Welt kam, war die Beziehung für Markus Peick endgültig "zementiert". Es folgten anstrengende Jahre des Vaterseins, "da war erst einmal an mich gar kein Denken".

"Da sitzt man plötzlich alleine da und merkt, wie man langsam auf einen Abgrund zusteuert"

Heute lebt Peick das Leben, das er sich selbst und die Umstände ihm so lange verwehrt haben. "Leicht war's nicht, aber von Erfolg gekrönt", sagt er in seinem wehmütig-scherzenden Ton. Bei den rosa Seepferdchen traf er Martin Peick und verliebte sich. Die beiden sind nach acht Jahren Beziehung seit Kurzem verheiratet und teilen sich "sehr paritätisch" Markus' Kinder mit seiner Ex-Frau. "Wenn ich noch mal wählen könnte, dann würde ich den Markus wieder mit Kindern nehmen", sagt sein Ehemann Martin Peick, der sich mit seinem Outing ebenfalls Zeit ließ.

Aufgewachsen in einer niederbayrischen Kleinstadt hat er seine sexuelle Orientierung als Pubertierender einfach "nicht zugelassen". Im Jurastudium "habe ich mich nicht getraut". Trotzdem war er in dieser Zeit keinesfalls einsam, hatte einen großen Freundeskreis, fuhr in den Semesterferien mit seinen Kumpels weg. Zum Problem wurde seine Situation für ihn erst mit Mitte 30, als seine Freunde nacheinander heirateten und nun mit ihren eigenen Familien den Sommer verbrachten.

"Da sitzt man plötzlich alleine da und merkt, wie man langsam auf einen Abgrund zusteuert", schildert Peick. Schließlich überwand sich der Bergliebhaber, dem Gay Outdoor Club (GOC), einer LGBTI*-freundlichen Abordnung des Deutschen Alpenvereins, beizutreten. Mit den Leuten vom GOC traute er sich erstmals, öffentlich zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen und sogar eine Schwulenbar im Glockenbachviertel zu besuchen. Außerdem lernte er Timo Walter kennen. Wenig später fanden sich die beiden bei den rosa Seepferdchen wieder.

Die Müllerstraße haben einige von ihnen lieber gemieden

Die Vorstellung, die er vor seinem Coming-out vom schwulen Leben hatte, hat Timo Walter zugleich angezogen und abgestoßen. "Ich hatte ein ganz komisches Bild davon - dass alles schrill ist", erzählt er. Als junger Mann musste er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um aus Neugierde durch das Glockenbachviertel zu radeln. Auf einem seiner Streifzüge entdeckt er, wie er erzählt, einen Stapel der Szenezeitschrift "Leo". Walter ringt lange mit sich, schnappt sich schließlich ein Exemplar und tritt schnell in die Pedale. "Ich frage mich, warum ich mir das Leben so schwer gemacht habe", denkt er sich Jahre nach seinem Coming-out mit 32, "wo ich danach doch nur positive Erfahrungen gemacht habe."

An seine Angst vor dem Viertel rings um den Gärtnerplatz erinnert sich auch Andreas Albrecht noch gut. "Ich habe die Müllerstraße gemieden", erzählt er. "Ich dachte, allein schon, wenn ich da durchlaufe, bin ich stigmatisiert." In seinen Jugendjahren war Albrecht sieben Jahre mit einer Frau zusammen. Dabei wusste er bereits mit zehn, dass er nicht auf Frauen steht. Irgendwann beendete er die Beziehung, konnte seiner Freundin aber keine richtige Erklärung geben. "Ich habe gesagt: Ich liebe dich nicht mehr." Als Albrecht, damals erst knapp über 30 und von den anderen liebevoll "das Küken" genannt, den Seepferdchen beitritt, ist er genau genommen der einzige, der sein erstes Coming-out noch vor sich hat und der bis zu diesem Schritt noch über ein Jahr brauchen wird.

Die Seepferdchen eint am Anfang, dass sie als erwachsene Männer neu sind in einer Welt, die schon viel früher ihre Heimat hätte sein können. Bald lernen sie, dass ein Coming-out kein einzelnes, abgeschlossenes Ereignis ist. "Es ist ein Begriff, der kenntlich macht, dass die Person einen Bewusstmachungsprozess durchläuft, um ihre Homosexualität anzunehmen", weiß Christopher Knoll. In einer heteronormativen Gesellschaft kann jede Begegnung im Alltag Anlass für ein Coming-out sein.

Markus Bartsch war zwar der erste der Gruppe, der sich dazu entschloss, brauchte aber einige Anläufe: An seinem vierzigsten Geburtstag war er kurz davor, sich vor den Partygästen zu outen, traute sich aber nicht, weil es seine Eltern noch nicht wussten. Bei einer anderen Gelegenheit verkündete sein Bruder kurz davor baldigen Nachwuchs. Erst beim dritten Mal gelang ihm sein Outing. Auch Bartschs Bild von Homosexualität passte lange Zeit nicht zu seiner heutigen Lebensrealität. "Du musst mit der Federboa um den Hals durch die Straße laufen, dann bist du schwul", dachte er viele Jahre. Mit 30 schlief er mit einem Mann, in den zehn Jahren danach hatte er zwei Beziehungen mit Frauen. "Erst dachte ich, ich wäre asexuell. Mittlerweile weiß ich, dass Schwulsein in allen Farben, Größen und Couleurs existiert. Der Regenbogen ist bunt."

Einige verstecken sich - im eigenen inneren Gefängnis

Bartsch hat sich für sein Outing die "Mitte des Lebens" errechnet. "Einerseits habe ich gewisse Sachen verpasst", denkt er, "andererseits habe ich mir Fehler in den Jugendjahren erspart." Andreas Albrecht bereut, dass er seiner Ex-Freundin "eine gewisse Zeit geklaut" habe. Bis heute sind die Männer dennoch überzeugt, dass es nie zu spät ist. Markus Peick etwa kennt einen Mann, der sich erst als Rentner geoutet hat.

Christopher Knoll erzählt die Geschichte von einen unglücklich verheirateten 76-Jährigen, der sich telefonisch bei ihm im Sub gemeldet hat, um sich ihm zu outen. "Die Tatsache, dass wir in einer schwulenfeindlichen Gesellschaft aufwachsen, ist ein Risiko für den jungen schwulen Mann", sagt Knoll. In dieser feindlichen Umgebung verstecken sich einige Homosexuelle über Jahre, bis der Druck aus der Gesellschaft und die eigenen Gedanken zum inneren Gefängnis werden.

Nach einer achtjährigen Freundschaft haben die Männer, die sich wie Seepferdchen fühlten, gelernt, dass die Kategorien von Meerestierchen und Profischwimmern eigentlich keine Rolle spielen. Andreas Albrecht kann sich an das erste Gefühl nach seinem Outing noch gut erinnern: "Dann war ich frei."

© SZ vom 17.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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