Süddeutsche Zeitung

Maxvorstadt:Über den Tod hinaus berühren

Lesezeit: 3 min

Hologramme von Holocaust-Überlebenden sollen Erinnerungen von Zeitzeugen wachhalten. Studierende testen nun ein digitales Projekt von Ludwig-Maximilians-Universität und Leibniz-Rechenzentrum.

Von Justus Wilke, Maxvorstadt

Fünf Studenten sitzen in einem Seminarraum an der Schellingstraße, das Zimmer ist abgedunkelt. Gerade hat Abba Naor 40 Minuten lang seine Geschichte erzählt. Wie er und seine Familie 1941 in das Ghetto von Kaunas deportiert wurden, wie er in das KZ Stutthof bei Danzig kam, wie ihn die Nazis in ein Außenlager des KZ Dachau brachten, und wie er einen neuntägigen Todesmarsch überlebte. Die Studenten wirken niedergeschlagen, die Stimmung gedrückt, es fließen auch Tränen. Dabei ist der echte Abba Naor gar nicht anwesend, der sitzt zur selben Zeit irgendwo in Israel. Die Studenten sitzen mit Maskenschutz und 3D-Brille bloß vor einer Projektion des Zeitzeugen, die ein Beamer an eine Leinwand wirft.

Die Studentinnen und Studenten testen das Projekt "Lernen mit digitalen Zeugnissen" (Lediz), das versucht, ein zentrales Problem der Erinnerungskultur zu lösen: Lang wird es nicht mehr dauern, bis auch der letzte Holocaust-Überlebende gestorben sein wird. Noch reisen einige von ihnen trotz des hohen Alters durch Klassenzimmer und Hörsäle, erzählen von ihren Erfahrungen in Konzentrationslagern und geben ihren Zuhörern eine wichtige Botschaft mit: nie wieder! Ersetzen kann man die Zeitzeugen nicht - und doch gibt es kreative Versuche. Zum Beispiel das Lediz-Projekt, an dem Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München gemeinsam mit dem Leibniz-Rechenzentrum arbeiten: Sie erstellen Hologramme von Holocaust-Überlebenden, die sogar auf Fragen des Publikums antworten können. Das Team aus Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen stellte zwei Überlebenden rund 1000 Fragen und nahm die Antworten mit Spezial-Kameras auf, die den 3D-Effekt ermöglichen. Damit soll das Schicksal Naors auch über seinen Tod hinaus die Zuhörer berühren - und er kann sogar ihre Fragen beantworten.

Die Studentin Ira Dick nimmt ein Smartphone in die Hand, drückt auf den blauen Button und fragt: "Welche Gefühle haben Sie heute den Deutschen gegenüber?" Das Smartphone registriert die Frage und schickt sie an einen Laptop weiter. Der sucht aus den 1000 möglichen Antworten die passende heraus und spielt über den Beamer das entsprechende Video ab, Naor antwortet: "Ich fühle mich in Deutschland wie Zuhause." Dick ist sichtlich erstaunt über die Antwort. Später sagt die Studentin, sie habe schon mehreren Holocaust-Überlebenden zugehört. Ob die heutige Begegnung anders gewesen sei? Nein, "das war eigentlich genauso wie alle anderen auch", sagt Dick. Die 3D-Projektion sei zwar kein Ersatz, aber doch um einiges besser als nur ein Buch durchzukauen.

Noch funktioniert die Technik nicht einwandfrei. "Haben Sie Ihren Vater gefunden?" Sicher habe er Kinder, sogar neun Urenkel, "ich bin ein reicher Mann", antwortet Naor. Das Missverständnis lockert die gedrückte Stimmung etwas auf - bei den Studenten. "Während wir Blut und Wasser schwitzen, ist es für die anderen nicht so dramatisch", sagt Markus Gloe, Professor für Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde. Zusammen mit zwei Kollegen koordiniert er das Lediz-Projekt. Ende 2018 interviewte das Team eine Woche lang Naor, seitdem trainieren sie eine Spracherkennungssoftware, damit die Antworten von Naor den Fragen des Publikums richtig zugeordnet werden. Die Trefferquote von etwa 70 Prozent wolle man noch verbessern, sagt Gloe. Deshalb testen sie das Hologramm in Schulen, Unis oder von dieser Woche an in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Während der Testphase prüfen Gloe und seine Kollegen, welche Fragen nicht passend beantwortet wurden und wie das Publikum auf das Hologramm reagiert.

Daher möchte Anja Ballis das Projekt "öffentlich zugänglich für jeden Mann und jede Frau" machen. Ballis ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der LMU, auch sie koordiniert das Projekt. "Bis März 2021 arbeiten wir noch an der wissenschaftlichen Seite", sagt Ballis. In Zukunft soll Lediz aus zwei Teilen bestehen: einer mobilen Variante mit 3D-Brillen, Beamer, Leinwand, Laptop und Smartphone. Diese soll zum Beispiel in Schulen eingesetzt werden. Zusätzlich planen sie eine digitale Variante: eine Website, über die jeder von Zuhause aus die zwei Zeitzeugen befragen kann und die aufgezeichneten Antworten erhält.

Die Projektleiter suchen aber auch nach einer langfristigen Lösung, einem Ort, an dem Technik und Mitarbeiter unterkommen können. Denn Anja Ballis und Markus Gloe sind Wissenschaftler, sie können sich nicht dauerhaft um Schulbesuche und Lediz-Ausstellungen kümmern.

Bis sich etwas gefunden hat, verbessern die beiden die Spracherkennung und pflegen den Kontakt zu den echten Zeitzeugen. Einige Stunden vor dem Termin an der Schellingstraße empfing Professorin Ballis ein Video aus Israel: Abba Naor sitzt in einem roten Hemd auf einem großen Sofa, neben ihm ein Hello-Kitty-Plüschtier. Er warnt, der Antisemitismus sei in Deutschland wieder salonfähig geworden. "Langsam haben die Leute vergessen, wie es damals war!" Umso wichtiger, dass Naors Botschaft über seinen Tod hinaus lebendig bleibt.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2020
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