Holocaust:Wo das Leben von 999 Juden aus München ausgelöscht wurde

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Auf dem Hügel der ehemaligen Festungsanlage Fort IX im litauischen Kaunas haben die Studierenden und die Museumsmitarbeiter ein Blumengesteck am Gedenkstein der Stadt München niedergelegt. (Foto: Katharina Haase)

Eine Seminargruppe der LMU begibt sich auf die Spuren von Holocaustopfern. In Kaunas ermordete das NS-Regime auch 13 Kinder einer Münchner Schule. Die Studierenden versuchen, deren Biografien zu vervollständigen.

Von Katharina Haase

Am Montag steigen acht Studierende und zwei Wissenschaftlerinnen der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) bei klirrender Kälte und strahlendem Sonnenschein den Hügel der ehemaligen Festungsanlage Fort IX im litauischen Kaunas hinauf. Begleitet werden sie von einer Gruppe Museumsmitarbeitern. Vytautas Petrikėnas, Leiter der Geschichtsabteilung, trägt ein großes, weißes Blumengesteck in seinen Händen.

Die Gruppe beschreitet den Weg, den auf den Tag genau 83 Jahre zuvor, bei strömendem Regen, rund 3000 deutsche Juden ebenfalls gingen. Unter ihnen 999 Münchner und Münchnerinnen, die mit dem ersten großen Deportationszug fünf Tage zuvor Bayerns Landeshauptstadt verlassen hatten. Nach Ankunft in Kaunas mussten sie die fünf Kilometer bis zum Fort zu Fuß zurücklegen. Zwei Nächte verbrachten sie in der Ungewissheit über ihr Schicksal, bis sie zum Gang auf den Hügel getrieben wurden. Oben angekommen, mussten sich die Menschen in Gruppen von 50 bis 80 Personen in die Festungsgräben legen. Dort wurden sie, auf Anweisung des SS-Standartenführers Karl Jäger, erschossen. Das Morden dauerte einen ganzen Tag.

Auch 13 Kinder einer Klasse der jüdischen Volksschule in München gingen an diesem Tag den letzten Weg ihrer kurzen Leben. Die Studierenden der LMU versuchen nun, im Rahmen eines Seminars am Lehrstuhl für jüdische Geschichte deren Biografien zu vervollständigen. Am Ort des Geschehens wollen sie an diesem Tag der Kinder gedenken.

Die Grundschulklasse der jüdischen Volksschule im Jahr 1937: Vier Jahre später wurden einige der Kinder sowie ihr Lehrer Ferdinand Kissinger nach Kaunas in Litauen verschleppt. (Foto: Privatbesitz Sara Hinde Rosenstock)

Wenige Minuten zuvor hatte die Gruppe sich im Hof der einstigen Festungsanlage versammelt, um an die Opfer des 25. November zu erinnern, „an dem Ort, an dem sie die letzten, angstvollen Tage ihres Lebens verbrachten“, wie Museumsdirektor Marius Pečiulis sagt. Dann überlässt er den Studierenden das Wort. Aufgerufen von ihren Seminarleiterinnen, Julia Schneidawind und Kristina Milz, treten sie einzeln nach vorn und verlesen einige der biografischen Details, die sie bisher über die ermordeten Kinder herausfinden konnten.

So etwa über die Zwillinge Ingeborg und Margot Ruthenburg, die laut Aufzeichnungen ihres Freundes und Holocaust-Überlebenden Hugo Holzmann sehr unterschiedliche Charaktere gehabt haben sollen. Während Ingeborg sehr schüchtern gewesen sei, sei Margot eher extrovertiert gewesen, erklärt Ronja Korsch den Anwesenden. Die beiden Mädchen, gerade 13 Jahre alt geworden, starben gemeinsam mit ihren Eltern. Auch die Familie von Günter Hess wurde an jenem Dienstag vollständig ausgelöscht, so verliest es Alina Zöttl. Der Zwölfjährige starb gemeinsam mit seinem Bruder und seinen Eltern, die sich vor ihrer Deportation mehrfach vergeblich um eine Emigration in die USA bemüht hatten.

Ronja Korsch (Mitte) verliest Details aus dem Leben der ermordeten Zwillinge Ingeborg und Margot Ruthenburg. Ebenfalls im Bild sind Museumsleiter Marius Pečiulis, Vytautas Jurkus, Leiter der Bildungsabteilung sowie die Seminarleiterinnen Julia Schneidawind und Kristina Milz (von links). (Foto: Katharina Haase)

Weiter gedachten die Studierenden Jakob Alster, Esther Berger, Lore Fellheimer, Alfred Greif, Eva Gunz, Eva Hirsch, Erich Kupfer, Menni Rosenbusch, Susanne Scherz und Harald Zernik sowie zweier weiterer Klassenkameraden: Manfred Pollak und Bertel Sandbank, die zwar nicht in Kaunas starben, jedoch ebenfalls den Holocaust nicht überlebten.

Der Zug, der am 20. November das Lager in Milbertshofen verlassen hatte, sollte eigentlich nach Riga fahren. Da das Ghetto dort überfüllt war, wurde er umgeleitet. Ob sie in Riga überlebt hätten, ist ungewiss. Am 1. Dezember 1941 meldete SS-Mann Karl Jäger seinen Vorgesetzten in einem detaillierten Bericht die Exekution von insgesamt 137 346 Juden, darunter auch die 999 aus München. Litauen sei damit „judenfrei“. Sein Einsatz für die SS wurde später von Reichsführer SS Heinrich Himmler in besonderer Weise gewürdigt.

Das Ziel dieses Ortes sei auch, hatte Museumsdirektor Pečiulis zu Beginn gesagt, dass die Menschen ins Nachdenken kommen. Am Gedenkstein der Stadt München, oben auf dem Hügel, wird schließlich das Gesteck niedergelegt. Dann herrscht Schweigen.

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