Süddeutsche Zeitung

Telefonzellen-Storytelling:Gesprächsort für Gesprächsstoff

In einer Telefonzelle lassen sich Doris Dörrie und Studierende der Filmhochschule Geschichten aus der Corona-Zeit erzählen

Von Ayça Balcı

Die bunt bemalte Bücher-Telefonzelle der Minna Thiel auf der Wiese vor der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) war in den vergangenen Tagen nicht allein. Sie bekam Gesellschaft von einer zweiten ihrer Art, einer zwar nicht so kreativ geschmückten, aber typisch gelben - so, wie man sie noch an den Straßenecken sehen konnte, ehe sie vor langer Zeit aus dem Stadtbild verschwanden. Die beiden Nostalgieobjekte seien eine "ironische Replik auf unsere ständige Online-Präsenz heutzutage", sagt die Autorin und Regisseurin Doris Dörrie, kurz nachdem sie das bunte Häuschen verlässt. Gerade saß sie noch drin und hörte der Dame zu, die ihr aus der gegenüberstehenden Telefonzelle von Erlebnissen und Erfahrungen aus ihrem Corona-Alltag erzählte.

Die Aktion "Zuhören!", die Dörrie und ihre Drehbuch-Studierenden auf die Beine stellten, sollte nämlich genau das tun: all denjenigen ein offenes Ohr schenken, bei denen sich in der Pandemie-Zeit und während des Lockdowns einiges an Erzählbedarf angesammelt hat. "Viele Menschen haben das Gefühl, man höre ihnen nicht zu", sagt Dörrie. Dabei brauche jeder einen Zuhörer. Gerade auch in diesen Zeiten. "Jeder Mensch hat diese Zeit anders zu bewältigen." Tatsächlich stecken wir zwar alle in derselben Krise, und doch macht jeder seine eigenen persönlichen Erfahrungen mit ihr. Für die Studierenden und Doris Dörrie, die den Lehrstuhl Creative Writing leitet, sind das alles Geschichten, die es wert sind, erzählt, gehört und auch aufgeschrieben zu werden. "Ich erkläre meinen Studenten immer, dass Schreiben zu 80 Prozent aus Zuhören besteht", sagt die Filmemacherin, denn nur so könne man die Welt um sich herum auch wirklich wahrnehmen.

Bevor man schreibt, muss also erst einmal das Zuhören gelernt sein. Damit war die Telefonzellen-Aktion nicht nur eine Möglichkeit, sich mit einem kalten Getränk, das man sich vorher von der Minna-Thiel-Bar geholt hat, in die Zelle zu setzen und einfach mal den Corona-Ballast von der Seele zu reden, sondern auch eine gute Zuhör-Übung für die angehenden Drehbuchautoren und Filmemacher. Doris Dörrie weiß, worauf es dabei ankommt: "einfach nur mal zuzuhören, das Kopfkino abzuschalten, die eigene Interpretation beiseitezuschieben und sich wirklich auf den anderen einzulassen." Und dann sprudelt es sowieso aus dem Menschen heraus: Ob nun über das erste Enkelkind, das während des Lockdowns zur Welt kam, das Erbittern darüber, es als frisch gebackene Großeltern nicht gesehen haben zu dürfen; oder darüber, wie sehr man es doch vermisst hat, ins Kino zu gehen und sich mit Freunden bei einem Kaffee über Alltägliches auszutauschen. Aber um auch positiv festzustellen, dass die Beziehung zu den Familienmitgliedern inniger und stärker geworden ist, weil sie in dieser Zeit mehr denn je aufeinander angewiesen waren.

Der Versuch, die Zuhör-Aktion möglichst analog und doch coronatauglich zu gestalten, ist Doris Dörrie und ihren Studierenden geglückt: Wer erzählen wollte, meldete sich an, setzte sich in die gerade frisch desinfizierte und durchgelüftete Telefonzelle und kommunizierte über das von der Decke baumelnde Mikrofon völlig kontaktlos mit seinem Zuhörer, der einem auf Augenhöhe gegenübersaß - aber eben in der anderen Zelle.

Hannelore Prechtel hält die Aktion für eine tolle Idee. "Man fühlt sich sicher in der Telefonzelle", sagt die 85-Jährige. Fast nur Positives habe sie aus ihrer Lockdown-Zeit zu berichten gehabt. "Man fängt durch die Zwischenfragen aber auch an, beim Sprechen darüber zu reflektieren." Anders als Prechtel habe Gisela Holle vorher schon ganz genau gewusst, welche Geschichte sie erzählen wollte. Als jemand, die in einem ambulanten Hospiz tätig ist, habe sie zu beklagen, dass viele Menschen aufgrund der Kontaktbeschränkungen teilweise alleine sterben mussten: "Ich finde, die Ohnmacht, die man da spürt, muss gehört werden." Die Zuhör-Aktion sehe sie daher als eine Chance.

Ob Kurzgeschichten, Filme oder doch etwas ganz anderes - was die Studierenden aus den vielen persönlichen Geschichten, die aufgezeichnet wurden, später machen werden, sei bewusst noch völlig offen. "Es ist wichtig, dass man dem Material den Raum gibt, sich frei zu entwickeln", sagt Dörrie. Grundsätzlich gelte aber immer: "Alles ist Inspiration." Man müsse nur lernen, auch alles als Inspiration begreifen zu können.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2020
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