Fotografin Herlinde Koelbl:Die Menschenfängerin

Fotografin Herlinde Koelbl: Damenhaft elegant und wildfrech pumucklhaft: Für die Fotografin Herlinde Koelbl ist es stets entscheidend gewesen, "das eigene Ego zurückzunehmen".

Damenhaft elegant und wildfrech pumucklhaft: Für die Fotografin Herlinde Koelbl ist es stets entscheidend gewesen, "das eigene Ego zurückzunehmen".

(Foto: Johannes Rodach)

In ihren Fotografien kommt Herlinde Koelbl den Porträtierten ganz nahe - egal, ob es sich dabei um Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Nobelpreisträger handelt. Über eine Künstlerin, die selbst am liebsten auf Distanz bleibt.

Von Christine Dössel

Herlinde Koelbl hat sich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Cafés platziert, wo es nicht so laut ist und sie alles gut im Blick hat. Darin, sich selbst zurück- und andere sehr genau in den Fokus zu nehmen, ist die Münchner Fotografin, eine der wichtigsten und bekanntesten ihrer Zunft, besonders gut. Das gehört zu ihren Markenzeichen. Genauso wie ihre Hocksteckfrisur, mit der sie ihre orangeroten Locken auf eine apart-lässige Weise so in Form bringt, dass sie einerseits, kombiniert mit Lippenstift und Blazer, etwas damenhaft Elegantes, andererseits aber auch etwas wildfrech Pumucklhaftes hat, was sie oft noch mit leuchtbunten Schals unterstreicht (an diesem Tag: einer aus Wolle in Mint- und Hellgrün). Nur die Anmutung einer 82-Jährigen, die hat Herlinde Koelbl definitiv nicht.

Wie immer ist sie eine erfreuliche Erscheinung und auch tatsächlich freundlich, bleibt aber auf Distanz. Schon die erste Frage, die auch nur annähernd ihr Privatleben tangiert, weist sie entschieden zurück: "Da beißen Sie auf Granit. Ich rede nie über mein Privatleben. Nie!" Man weiß von ihr, dass sie am 31. Oktober 1939 in Lindau am Bodensee geboren wurde, dass sie in München auf die Modeschule ging, mit 20 heiratete und Mutter von vier Kindern ist. Dass sie lange nur für die Familie gelebt hat und erst mit 37 anfing zu fotografieren, in Selbstaneignung. Diese paar Rohdaten sind bekannt. Darüber hinaus ist ihr Privatleben tabu. Sie sagt, das habe sie schon früh so entschieden und stets so beibehalten, und wenn man das nicht respektiere, "dann können wir es auch lassen".

Nachfragen sind eher kontraproduktiv, sie will sich nicht erklären müssen. Es kommt kurz eine Missstimmung auf. Aber die verfliegt auch schnell wieder, schließlich führt Koelbls Widerwille, als Person zu viel von sich preiszugeben und damit als Porträtierte selbst ins Licht zu geraten, unmittelbar zu ihrer Tätigkeit als Fotografin: nämlich andere zu porträtieren und ihnen dabei durchaus nahe zu kommen.

Ihr Credo "Leidenschaft und Disziplin - ohne geht es nicht"

Über ihren Beruf wiederum spricht Koelbl gerne, erteilt bereitwillig Auskunft, nennt als ihr Credo "Leidenschaft und Disziplin - ohne geht es nicht". Entscheidend für sie als Fotografin sei außerdem stets gewesen, "das eigene Ego zurückzunehmen". Dieser Devise folgt Koelbl offensichtlich auch dann, wenn sie es ist, von der man sich ein Bild machen will. Oder anders gesagt: Sie scheint selbst die Kontrolle über ihr Bild in der Öffentlichkeit behalten zu wollen. Es ist das Bild einer ernsten, sachbezogenen, extrem fokussierten Fotokünstlerin - und auch Fotojournalistin -, die sich akribisch vorbereitet, sich wie ein Maulwurf in ihre Projekte hineingräbt und nur für ihre Arbeit lebt.

Fotografin Herlinde Koelbl: 30 Jahre lang hat Helinde Koelbl Angela Merkel fotografisch begleitet. Einmal pro Jahr gab es einen Fototermin.

30 Jahre lang hat Helinde Koelbl Angela Merkel fotografisch begleitet. Einmal pro Jahr gab es einen Fototermin.

(Foto: Herlinde Koelbl)

Das Jahr ist noch jung, aber Koelbls Terminkalender schon ganz schön voll. Eine Retrospektive in Braunschweig (im Mai), Ausstellungen in Augsburg, Halle, Tokio (im Oktober). Von Ende April bis Anfang September zeigt das Deutschen Historische Museum in Berlin ihre Porträts der Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel - jene Fotoserie, die sie im vergangenen Herbst unter großer Medienaufmerksamkeit als neuen Bildband herausgebracht hat. Koelbl hat die CDU-Politikerin 30 Jahre lang fotografisch begleitet, sie einmal jährlich zum Fototermin getroffen; angefangen 1991, als Merkel die politische Arena betrat, damals noch belächelt als "Kohls Mädchen", bis zu ihrer Verabschiedung 2021 nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft.

Die Porträts - ganz pur, ohne Dekor und Inszenierung - dokumentieren eine frappierende Veränderung, in der Kleidung, in der Haltung, in Merkels anfangs scheuem Gesicht. Aber sie zeigen noch mehr. Sie erzählen von einer politischen Selbstbewusstwerdung, durchdringen die Körperlichkeit, erblicken den Menschen dahinter. So etwas schafft Koelbl ohne jeden Voyeurismus. Ihr Blick hat eher etwas vom Versuchslaborinteresse einer (ihren Probanden zugewandten) Forscherin.

Die Merkel-Serie ist das größte und schon jetzt ikonografische Langzeitprojekt Koelbls, hervorgegangen aus ihrer berühmten Werkreihe "Spuren der Macht", für die sie acht Jahre lang, von 1991 bis 1998, nicht nur Angela Merkel, sondern auch andere Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft wie Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder Peter Gauweiler einmal jährlich fotografierte.

Eine grandiose Studie über die Verwandlung von Menschen durch ihr Amt. Darüber, was Macht mit einem macht. Eine Dokumentation auch in Worten, denn die Fotochronistin Koelbl, die als "Ethnologin mit der Kamera" gilt, hat ihre Porträtierten zwecks genauerer Erkundung stets auch befragt und den Fotos markante Zitate beigesellt. Die Interview- und Textarbeit gehört bei ihr fest dazu: das gesprochene, von ihr aufgezeichnete, aufgeschriebene, gefilmte Wort als erzählerisches Element.

Fotografin Herlinde Koelbl: Nach ihrem ersten Bildband "Das deutsche Wohnzimmer" (1980) folgte 2002 die fotografische Milieustudie "Schlafzimmer".

Nach ihrem ersten Bildband "Das deutsche Wohnzimmer" (1980) folgte 2002 die fotografische Milieustudie "Schlafzimmer".

(Foto: Herlinde Koelbl)

Das war schon bei ihrem ersten Bildband "Das deutsche Wohnzimmer" so, mit dem die berufliche Spätzünderin 1980 bekannt wurde, heute ein Klassiker der deutschen Fotografie: Einblicke in die (Spieß-) Bürgerlichkeit, die Behaglichkeitshölle und die ganz normalen Abgründe der Nation, inklusive aufschlussreicher Bekenntnissätze derjenigen, die sich da in ihren guten Stuben stolz wie Oskar ablichten ließen. 2002 legte Koelbl, nun in Farbe und mit internationalem Radius, mit "Schlafzimmer" nach. Die fotografische Milieu- und Sozialstudie führte diesmal in intimste Gemächer in den Metropolen der Welt, es war alles andere als ein Blick durchs Schlüsselloch.

Fotografin Herlinde Koelbl: Eine ihrer eindrücklichsten Werkreihen sind die "Jüdischen Porträts" (1989). Gezeigt werden deutsch-jüdische Persönlichkeiten, die den Holocaust überlebt hatten. Hier: Gitta Alpár.

Eine ihrer eindrücklichsten Werkreihen sind die "Jüdischen Porträts" (1989). Gezeigt werden deutsch-jüdische Persönlichkeiten, die den Holocaust überlebt hatten. Hier: Gitta Alpár.

(Foto: Herlinde Koelbl)

Dazwischen betätigte sich die Feldforscherin auch auf dem Gebiet der Körperkunde und Sexualität, wobei sie erst das männliche Geschlecht vor die Linse nahm ("Männer", 1984), dann das weibliche: "Starke Frauen" (1996). Auch die High Society entging nicht ihrem fein ironischen Leica-Auge ("Feine Leute", 1986), und in einer ihrer eindrücklichsten Werkreihen, den "Jüdischen Porträts" (1989), fotografierte und interviewte Koelbl deutsch-jüdische Persönlichkeiten, die den Holocaust überlebt hatten: 26 Gesichtsbilder und Selbstauskünfte von Geistesgrößen wie Norbert Elias, Grete Weil, Karl Popper oder Marcel Reich-Ranicki.

"Die Projekte kommen immer aus meinem Inneren heraus"

Das alles waren Langzeitstudien. Koelbl nimmt sich für ihre Arbeiten Zeit, meist vier, fünf Jahre für ein Projekt, reist dafür um die halbe Welt. Nichts davon macht sie auf Bestellung. Es gibt keine Auftraggeber, keinen Abgabedruck, keine Finanziers. Sie arbeitet viel und steckt das verdiente Geld wieder in neue Unternehmungen. "Die Projekte kommen immer aus meinem Inneren heraus", erklärt die Freelancerin. Angestellt war sie nie. Wollte sie auch nie sein. Das sei eine sehr bewusste Haltung: in Freiheit arbeiten zu können. Von der ersten Idee bis zur Vollendung eines Projekts macht sie alles mit sich selbst aus. "Es ist eine ständige Auseinandersetzung mit dem Thema, aber die erfolgt in mir. Bis ich im tiefsten Inneren weiß, was ich erzählen will. Dann kriegt es eine Handschrift."

Eine Einzelgängerin und Außenseiterin war Koelbl als Autodidaktin von Anfang an. Sie sagt, sie habe auch keine Vorbilder. Zur Fotografie kam sie, indem sie Bilder von ihren Kindern beim Gummihüpfen machte, mit einer stinknormalen Kamera, einer Agfa Silette. Das Besondere war die Art, wie sie sie fotografierte: "Nämlich nicht aus der Erwachsenenperspektive, nicht von oben, sondern ich setzte mich ins Gras, begab mich auf die Ebene der Kinder und war damit Teil von ihnen. Da sind wirklich gute Fotos entstanden." So fing alles an, sogar der Koelbl-Stil war schon geprägt: immer ganz nahe dran. Ein Freund brachte ihr bei, wie man entwickelt, danach konnte und machte sie alles selbst.

Herlinde Koelbl und ihre Fotoserien und Interviews (etwa für das Zeit-Magazin) sind ein One-Woman-Erfolgsprojekt. Sie hat kein Team, keinen Assistenten, sogar die Ausrüstung schleppt sie selber. Schon bei den "Spuren der Macht" 1991 hat sie, eine Pionierin, alles alleine gemacht, fotografiert, Interviews mit dem DAT-Recorder aufgenommen und gefilmt. "Das war Stress hoch drei", erzählt Koelbl. Aber sie wusste auch: "Wenn ein Filmteam dabei ist, verändert das die ganze Situation."

Für das Projekt "Targets" fotografierte sie Soldaten bei ihren Militärübungen an Schießständen in nahezu 30 Ländern der Welt

So klein und zierlich Koelbl auch ist - mit einer Stimme, die im hallenden Lärm des Cafés fast untergeht -, so scheint sie doch von einer ungeheuren Willenskraft und Zähigkeit zu sein. Sie ist mit ihrer Kamera in Vorstandsetagen und harte Männerwelten eingedrungen. Anfangs sei sie da als Frau öfters mal unterschätzt worden, "aber das kann ja auch von Vorteil sein". Für das Projekt "Targets" (2014) fotografierte sie Soldaten bei ihren Militärübungen an Schießständen in nahezu 30 Ländern der Welt, reiste dafür mit einer 30-Kilo-Ausrüstung nach China, Brasilien, Russland, Afghanistan, Mali, in die USA und die Mongolei. Koelbls Erfahrung bei den Militärs: "Man darf nicht zimperlich sein, nicht auf Weibchen machen, dann wird man akzeptiert."

Fotografin Herlinde Koelbl: 2020 veröffentlichte Herlinde Koelbl die Porträts von 60 Nobelpreisträgern und Top-Forscherinnen aus aller Welt. Hier: die US-amerikanische Biochemikerin Frances Hamilton Arnold.

2020 veröffentlichte Herlinde Koelbl die Porträts von 60 Nobelpreisträgern und Top-Forscherinnen aus aller Welt. Hier: die US-amerikanische Biochemikerin Frances Hamilton Arnold.

(Foto: Herlinde Koelbl)

Muss Corona jemanden wie sie, die ständig unterwegs ist und kaum je rastet, geschweige denn mal einen längeren Urlaub macht, nicht schwer ausgebremst haben? I wo. Als die Pandemie losbrach, hatte Koelbl just alle Aufnahmen für ihr Langzeitprojekt "Faszination Wissenschaft" im Kasten, konnte zu Hause in München-Neuried in Ruhe alles aufbereiten und es 2020 veröffentlichen: die Porträts von 60 Nobelpreisträgern und Top-Forscherinnen aus aller Welt. Es war ein perfektes Timing - auch dahingehend, dass sie mit dieser Fotoserie exakt den Nerv einer Zeit trifft, in der die Wissenschaft durch Corona und den Klimawandel eine ganz neue, exponierte Rolle spielt. Das war 2015, als Koelbl mit der Reihe anfing, noch anders, weshalb es damals ihr Anliegen war, die Wissenschaft und vor allem die Menschen dahinter "in der Gesellschaft sichtbarer zu machen".

Koelbl hat sich vorab mit ihrem klugen Lockensturkopf in die Forschungsgebiete und Biografien der von ihr Porträtierten "intensiv eingelesen". Und sie hat beim Fototermin alle gebeten, die jeweilige Essenz ihrer Forschung, eine Formel oder einen Spruch, auf ihre Hand zu schreiben. Stolz ist sie, dass sie auch die beiden Frauen, die 2020 den Chemienobelpreis für die "Genschere" bekamen, in ihrer männerdominierten Serie dabei hat.

Die eine, die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier, schrieb "Always be the best of yourself" auf ihre Hand. Sei immer das Beste von Dir - schon klar, dass dieser Satz Koelbl besonders gut gefällt. Die andere, Jennifer Doudna, bekritzelte ihre Haut mit der Genscheren-Bezeichnung "CRISPR-Cas9". Koelbl buchstabiert sofort alle Namen. Diese Frau ist - und nimmt nun mal alles - sehr genau.

Ihre Arbeit hat für Herlinde Koelbl immer mit Erkenntnis zu tun: "Es ist ein großes Lernen, eine Universität des Lebens." In ihrem neuen Projekt wird das - Überraschung! - erstmals ohne Menschen vonstattengehen. Keine Interviews. Keine Gesichter. Sie verrät nur so viel: "Es hat mit Natur zu tun und mit einer veränderten Schönheit." Arbeitstitel: "Metamorphosen".

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