AusstellungDer Beat der Aufklärung

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"Some Munich Moments": In der Luftschutzkeller-Galerie im Haus der Kunst lässt Künstler Tony Cokes Technomusik zu seinen Video-Installationen laufen, Aufnahmen etwa vom kriegszerstörten München aus dem Sommer 1945, die vom Filmemacher und späteren SPD-Politiker Willi Cronauer stammen.
"Some Munich Moments": In der Luftschutzkeller-Galerie im Haus der Kunst lässt Künstler Tony Cokes Technomusik zu seinen Video-Installationen laufen, Aufnahmen etwa vom kriegszerstörten München aus dem Sommer 1945, die vom Filmemacher und späteren SPD-Politiker Willi Cronauer stammen. (Foto: Maximilian Geuter)

Der afroamerikanische Künstler Tony Cokes gibt im Haus der Kunst und im Kunstverein München Geschichtsunterricht mit popmusikalischen Mitteln.

Von Jürgen Moises, München

Im Original-Video zu "Pick Up The Phone" vom Album "Neon Golden" von The Notwist sieht man einen puscheligen Stoffbären, wie er einen Brief an einen im Haus nebenan lebenden Hasen schreibt. In der Doppelausstellung "Tony Cokes. Fragments, or just Moments" im Haus der Kunst und Kunstverein München gibt es dagegen eine andere Version. Da läuft in einem Video ebenfalls "Pick Up The Phone", nur sieht man dabei ein Haus und alles Mögliche in die Luft fliegen. Cineasten dürften die Szene kennen. Sie stammt aus Michelangelo Antonionis Film "Zabriskie Point", in dem es dazu Musik von Pink Floyd gibt. "Black September (Evil.2/3)" heißt das Video von Tony Cokes aus dem Jahr 2003, dessen Abspann aus den Daten von Militärputschen und Terroranschlägen besteht, die alle im September stattfanden. Darunter ist der Anschlag auf die Olympischen Spiele in München.

Wie das alles zusammenhängt? Nun, die Explosionen nehmen assoziativ und plakativ die genannten Gewaltakte vorweg. Und die Musik soll eine andere Form der Wahrnehmung oder Erkenntnis ermöglichen. Sie soll das Denken in Bewegung bringen. Das ist bei vielen Videoessays des Afroamerikaners so, wobei "Black September (Evil.2/3)" noch eine Frühform darstellt. Denn Bilder tauchen in späteren Arbeiten kaum noch auf. Stattdessen gibt es Text, Zitate, Typografie, Farbe, Musik. Daraus sampelt der in Providence lebende Cokes kulturtheoretische Musikvideos, in denen er sich mit Themen wie Rassismus, Kapitalismus, Krieg oder Gentrifizierung beschäftigt. In "Fragments, or just Moments" kommen München, die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus hinzu.

Die beiden Häuser arbeiteten nur selten in den letzten 85 Jahren zusammen

Der Kunstverein und das Haus der Kunst haben Tony Cokes um eine Auftragsarbeit gebeten, für deren Erstellung er in den vergangenen zwei Jahren wiederholt in München, in den beiden Häusern, deren Archiven oder auch im Stadtarchiv war. Dass die Institutionen organisatorisch zusammenarbeiten, geschah nur selten in den letzten 85 Jahren. Damals, 1937, fand im Haus der Kunst die "Große Deutsche Kunstausstellung" statt und in den Hofgartenarkaden und in den Räumen des heutigen Kunstvereins die Ausstellung "Entartete Kunst". Die aus mehreren Versionen bestehende Arbeit "Some Munich Moments, 1937-1972" führt beide Orte nun topografisch und inhaltlich zusammen und bezieht außerdem die unterirdische Fußgängerpassage dazwischen mit ein. Eine weitere Arbeit am Zaun des US-Konsulats soll folgen.

Im Haus der Kunst ist "Some Munich Moments" in der Luftschutzkeller-Galerie zu sehen, zusammen mit früheren Arbeiten. Im Gang läuft Technomusik. Die Soundtracks zu den Videos werden einem per Kopfhörer zugesteuert. Bei "Some Munich Moments" ist das Musik des Techno-DJs Fear N Loathing, aus dessen Youtube-Playlist " German Underground Techno - Dark & Hard". Die Bilder dazu stammen vom US-Dokumentaristen Julien Bryan, der 1937 nach der Eröffnung der "Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung" die Fassade des Hauses und in der Ausstellung "Entartete Kunst" gefilmt hat. Hinzu kommen Aufnahmen vom kriegszerstörten München im Juni 1945 vom Filmemacher und späteren SPD-Politiker Willi Cronauer. Auszüge aus Hitlers Eröffnungsrede zur "Großen Kunstausstellung" gibt es auch, kombiniert mit EDM-Tracks von Da Fresh und Joy Orbison.

Den Kontrast dazu bilden Textpassagen aus Alexander Negrellis Buch "Kommando Otl Aicher". Sie sind unterlegt mit den Farben, die Otl Aicher für das Design der Olympischen Spiele gewählt hat, sowie mit Donna Summers Disco-Hit "I Feel Love", den diese 1977 in München aufnahm. All das steht für ein modernes, weltoffenes München, das neue Image, das man damals für die Stadt erfand und demjenigen der NS-Zeit entgegensteht. Im Kunstverein gibt es auf schräg stehenden Leinwänden zwei Alternativversionen von "Some Munich Moments". Einmal als Einzelvideo, dann auf drei Leinwände verteilt. Hier sieht man auch Bilder von der "Großen Kunstausstellung" und vom zugehörigen Festzug. Also das, was im Haus der Kunst fehlt und dort eine Lücke darstellt.

"Ich mag einfache Systeme", sagt Tony Cokes über seine Arbeit

Öffentliche Kunstvermittlung und -verwirrung: Diese drei Plakate in den Olympia-Farben von Otl Aicher hat Tony Cokes in der Fußgängerpassage neben dem Haus der Kunst angebracht.
Öffentliche Kunstvermittlung und -verwirrung: Diese drei Plakate in den Olympia-Farben von Otl Aicher hat Tony Cokes in der Fußgängerpassage neben dem Haus der Kunst angebracht. (Foto: Maximilian Geuter)

Historisch Neues erfährt man nicht wirklich. Aber man bekommt es auf neue Weise präsentiert, um neu darüber nachzudenken. "Ich mag einfache Systeme", sagt Cokes über seine Text- und Musik-Collagen, die in anderen Fällen von Unruhen in den USA, dem Irak-Krieg, Abu Ghraib, Donald Trump oder dem afroamerikanischen Architekten Raul Revere Williams handeln. Dazu gibt es Musik von Morrissey, Radiohead oder den Pet Shop Boys, was diese meist unschönen Dinge leichter konsumierbar, tanzbar macht, eine neue Ebene schafft oder irritiert. Die eigentliche Kunst ist hier das Schaffen neuer Kontexte.

Die Vorbilder von Cokes, der sich statt Künstler lieber "Editor" oder "Archäologe" nennt, stammen aus der Werbung, aus Musikvideos und der Bildenden Kunst. Ersteres zeigen deutlich die drei Plakate in Otl-Aicher-Farben in der Fußgängerpassage, auf denen Sätze wie "The street is more important than the museum..." stehen. Ein wichtiges künstlerisches Vorbild wird im Abspann von "Ad Vice" von 1999, der ältesten gezeigten Arbeit, im Kunstverein genannt: " Television Delivers People", ein Video-Klassiker aus dem Jahr 1973 von Richard Serra und Carlota Fay Schoolman, die darin Kritik an den Massenmedien üben. Sie tun das mit Sätzen wie "You are the product of television", die Weiß auf Blau und zu Fahrstuhlmusik über den Bildschirm laufen.

Mit seiner Low-Budget-Ästhetik wirkt das wie die Blaupause zu Cokes Arbeiten. Nur dass er das Ganze um moderne Sampling-Methoden erweitert, der Musik eine aktivere Rolle zutraut oder sie selbst zum kritischen Gegenstand macht. Begleitet von treibenden Beats gibt es dabei viel Lesestoff zu absolvieren. Und das Vertrauen, das Cokes in die aufklärerische Wirkung von Lektüre setzt, wirkt geradezu altmodisch. Um in Cokes' Geschichtsseminar mit Dancefloor-Mitteln alles mitzubekommen, braucht es Zeit und Aufmerksamkeit. Aber selbst wenn man nur Fragmente erfasst: Man kommt auf jeden Fall schlauer aus der Ausstellung.

Tony Cokes. Fragments, or just Moments, bis 23. Okt. im Haus der Kunst (Prinzregentenstr. 1) und bis 11. Sept. im Kunstverein München (Galeriestr. 4)

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