Umringt von Bauzäunen hängt an einem Pfeiler noch der aktuelle Fahrplan. „Während der EM war der Bereich hier temporär begehbar“, erklärt Jörg Müller, „sonst wäre es mit den Besucherströmen zu eng geworden.“ Mit Helm und Warnweste läuft der Technik-Leiter der zweiten Stammstrecke München über den Querbahnsteig des Hauptbahnhofs, Passagiere mit Rollkoffern eilen um ihn herum. Nichts steht hier still — egal ob vor oder hinter den zahlreichen Bauabsperrungen, die sich über das Gelände verteilen.
Bereits seit 2019 gibt es Baulärm rund um den Münchner Hauptbahnhof, doch nun geht es langsam ans Kernstück. 1848 eröffnet, ist die Station in der Ludwigsvorstadt jedes Jahr zentraler Verkehrsknotenpunkt für rund 150 Millionen Reisende. Um dem Fahrgastaufkommen gerecht zu werden, wird der in die Jahre gekommene Gebäudekomplex teilweise abgerissen und neu aufgebaut.
Bis 2035 soll neben einem modernen Empfangsgebäude auch eine Haltstelle für die zweite S-Bahn-Stammstrecke entstehen, ein Rohbau für eine etwaige U9-Station ist ebenfalls geplant. Die Kosten für die Erweiterung der Stammstrecke belaufen sich auf rund sieben Milliarden Euro und werden zu 60 Prozent vom Bund übernommen, der Freistaat, die Deutsche Bahn (DB) und die Stadt München beteiligen sich ebenfalls an der Finanzierung. Das neue Empfangsgebäude soll einen dreistelligen Millionenbetrag kosten; zu 70 Prozent trägt diese die DB.
Bis zur Eröffnung ist noch einiges zu tun. Seit fünf Jahren wird die alte Empfangshalle entkernt, derzeit laufen die Bauarbeiten an drei Orten parallel. Viele der Arbeiten sind Vorabmaßnahmen für spätere Projekte. So wird momentan am südlichen Ausgang an der Bayerstraße der Treppenabgang zur U4/U5 zurückgebaut. Unter diesem befindet sich eine Bunkeranlage aus den 1940-er Jahren, deren massive Decke und Pfeiler teilweise entfernt werden müssen, um Platz für das Vorhaltebauwerk für die U9 Station zu schaffen.
„Auf einer grünen Wiese würde das zehn Monate dauern“, erklärt Frank Gebhart, „hier rechnen wir mit rund anderthalb Jahren.“ Der Leiter der Ingenieurbau-Technik der DB kennt die besonderen Herausforderungen der Baustelle: Neben den ein- und abfahrenden Zügen wollen auf der Bayerstraße die Straßenbahnen weiterrollen – und auch der Autoverkehr. „Alles ist hochsensibel“, so Gebhart, die vielen Erschütterungen erschweren vieles.
Die Arbeiten über dem alten Luftschutzkeller bilden den Grundstock für den Interimsbahnhof, dessen Inbetriebnahme für 2026 angesetzt ist. Geplant ist ein vierstöckiger Kastenbau mit Raum für die bislang in der Bahnhofshalle ansässigen Dienstleister und die verschiedenen Kundenangebote der Deutschen Bahn. Neben der Fundstelle, dem Reisezentrum und Schließfächern wird auch die DB-Lounge dort zu finden sein, zudem hat die Bundespolizei Räumlichkeiten und Stellplätze vor dem Gebäude.
Der Interimsbahnhof ist ausschließlich für eine temporäre Nutzung gedacht, nach Fertigstellung des neuen Empfangsgebäudes soll der Kastenbau an der Bayerstraße wieder abgerissen werden. Bei den einzelnen Elementen wurde daher Wert auf Wiederverwendbarkeit gelegt.
Herzstück des Megaprojekts ist das neue Empfangsgebäude, welches sich über sieben Stockwerke erstrecken wird. Für die An- und Abreise der Fahrgäste gibt es in zwei Untergeschossen 600 Fahrrad- und 200 Pkw-Stellplätze.
Auf dem Querbahnsteig ertönen derweil Lautsprecherstimmen, die die nächsten Anschlussverbindungen ankündigen. Inmitten der herumwuselnden Passagiere stehen sechs Stahlkonstruktionen, die entlang der Plattformen in die Höhe ragen. Ähnlich wie bei den Arbeiten an der Bayerstraße wird mit dem zusammenhängenden Gerüst die Grundlage für spätere Schritte gesetzt; das Dach über dem Querbahnsteig soll bis 2025 zurückgebaut werden, um Platz für den westlichen Erweiterungsbau zu schaffen. Die Glasdecke über den Bahnsteigen indes bleibt erhalten; sie steht unter Denkmalschutz.
Fernab aller Besucherströme laufen die Bauarbeiten für die neue Station der zweiten Stammstrecke. Am östlichen Ende des Bahnhofs geht es in die Tiefe: Aktuell wurde auf einer Fläche von 130 mal 60 Metern 22 Meter in die Tiefe gegraben, die künftige Station soll 41 Meter unter der Erdoberfläche liegen.
Es gehe nicht nur um eine Modernisierung des Gebäudes, sondern letztlich um die Verkehrswende und eine grünere Zukunft, erklärt ein Sprecher der DB. „Mit dem Status quo ist doch jeder unzufrieden“, glaubt er. Die S-Bahn sei für 250 000 gebaut worden und befördere mittlerweile fast eine Million Passagiere pro Tag. „Der Ausbau ist überfällig“, so der Sprecher. Derzeit liege man gut im Zeitplan.