Hasenbergl:Ein bisschen wie früher

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Hände hoch: Das Aufwärmen vor der zweistündigen Tanzstunde beginnt immer im Sitzen. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer bekommt ein Namensschild, auf dem der Vorname steht. (Foto: Florian Peljak)

Das Tanzprojekt "DanceOn" ist ein Kulturprojekt für Menschen, die sonst viel alleine wären. Die Kurse sind neu und schon jetzt so beliebt, dass es bald mehr davon geben soll

Von Linus Freymark

Was hat er früher nicht alles aufs Parkett gelegt. Beim Alten Wirt in Putzbrunn zum Beispiel. Oder im Franziskaner an der Bavaria. Walzer und Tango vor allem, aber das Langsame liegt ihm nicht so. "Ich brauch was mit Schmackes", sagt Georg Müller. Er ist 87 Jahre alt.

Das Tanzen ist anstrengend geworden für ihn. Aber Müller ist nicht der Typ, der sich von dem bisschen Zwicken in den Gliedern aufhalten lässt. Er liebt das Tanzen, das hält fit und erinnert ihn an früher. Und deshalb ist er nun schon das dritte Mal ins Kulturzentrum 2411 im Hasenbergl gekommen, zum Tanzprojekt "DanceOn": Rund 30 vorwiegend ältere Menschen treffen sich dort zum gemeinsamen Tanzen, manche mit einem körperlichen Handicap, manche ohne. Einige haben psychische Krankheiten, andere nicht. Wer kommen will, soll kommen dürfen, das in etwa ist die Idee von Projektleiter Ralf Otto. Die Teilnahme ist kostenlos, bei der Gestaltung des zweistündigen Kurses achten die Tanzvermittlerinnen Barbara Galli und Nina Willier darauf, dass jeder die Übungen mitmachen kann, manche eben langsamer und weniger ausladend als andere.

Ein Mittwochnachmittag im November, das Aufwärmen beginnt im Sitzen. Jeder der Teilnehmer hat ein Namensschild mit seinem Vornamen bekommen, Werner, Isolde, Hannelore. Drei Herren, mehr als 20 Frauen. Für jeden Nachtclub wäre diese Quote ein Traum, im Tanzsaal kommt sie nicht so gut an. "Früher gab's mehr Männer", sagt eine. "Quatsch", entgegnet eine andere, "die wollten noch nie tanzen". Kurz darauf übertönt der Pianist die Diskussionen mit Klaviermusik. Die Tänzer bewegen sich durch den Raum, auf Kommando sollen sie sich wieder setzen - neben einen anderen Partner. Interaktion sei wichtig, erklärt Barbara Galli. "So entsteht ein Gemeinschaftsgefühl." Entstanden ist die Idee zu DanceOn, weil Ralf Otto das Gefühl hatte, es fehle eine Möglichkeit der kulturellen Teilhabe.

Hände hoch: Das Aufwärmen vor der zweistündigen Tanzstunde beginnt immer im Sitzen. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer bekommt ein Namensschild, auf dem der Vorname steht. (Foto: Florian Peljak)

Otto arbeitet beim gerontopsychiatrischen Dienst, er kennt die Wünsche seiner Patienten. Ihm ist wichtig, dass DanceOn ein Kulturprojekt ist, eines "für Menschen, die sonst nicht erreicht werden". So wie die 70 Jahre alte Mutter, die psychisch krank ist und eine 42-jährige behinderte Tochter hat. Das Tanzprojekt ist eine der wenigen Aktivitäten, die die beiden zusammen unternehmen können, seit der ersten Stunde kommen sie jedes Mal. Das von der Stadt geförderte Projekt läuft seit 25. September, bisher gibt es die Tanzstunden alle sechs Wochen. Im kommenden Jahr werden sie monatlich stattfinden.

Leise Klaviermusik erfüllt den Raum. Georg Müller hat seine Hände in die einer Frau gelegt, langsam lassen sie das Händepaar nach oben wandern, beugen sich leicht nach links, dann gleiten die Hände wieder nach unten. Spiegelmusik heißt die Übung, die Teilnehmer sollen die Bewegungen nachbilden, die die Musik in ihnen auslöst. Und sich dabei auf den Partner einlassen. "Kriegst du einen Drehwurm?", fragt Müller deshalb scherzhaft nach einer leichten Drehung. Er selbst hat die Augen aufgerissen, der Mund steht offen. Ein Blick voller Begeisterung, wie man ihn sonst nur von Kindern kennt. Von dem Kind, das er selbst einmal gewesen ist.

Spiegelmusik heißt diese Übung, die Teilnehmer sollen die Bewegungen nachbilden, die die Musik in ihnen auslöst. (Foto: Florian Peljak)

Müller ist in Oberschlesien aufgewachsen, in den letzten beiden Kriegsmonaten sind er und die anderen Jungs aus seinem Jahrgang 1932 zum Volkssturm eingezogen worden. Jugendliche und Greise gegen die Sowjetarmee, die Verluste waren hoch. Nach dem Krieg wollte er nach Wien, auf dem Weg dorthin ist er in einem Flüchtlingslager in München hängengeblieben. Die Stadt lag in Trümmern, zu essen gab es Knödel aus Kartoffelschalen. Getanzt wurde trotzdem - oder gerade deswegen, um zu vergessen. Müller begann eine Kochlehre, 30 Mark Monatsgehalt, zwölf Stunden Arbeit pro Tag, "die Backpfeifen vom Ausbilder gab es umsonst obendrauf". Aber das Tanzen hat er sich nicht nehmen lassen, wann immer es ging, sind sie losgezogen, mit fünf Mark für den Abend in der Tasche. 50 Pfennige kostete ein Bier, das Glas Rotwein für die Freundin eine Mark fünfzig. "Wenn wir Durst hatten, haben wir Leitungswasser getrunken", sagt Müller.

Zum Abschluss der Stunde sollen sich die Tänzer jeweils einen Partner suchen und dann selbständig zum nächsten wechseln. Und während man die Menschen beobachtet, die sich vor zwei Stunden nur flüchtig oder gar nicht kannten und nun Arm in Arm miteinander tanzen, versteht man, worum es Ralf Otto und den anderen hier geht: Menschen zusammenbringen, die Lust haben zu tanzen. Die sonst viel alleine wären. Da ist die Schweizerin, die Multiple Sklerose hat und im Rollstuhl sitzt. Eine andere hatte einfach Lust zu tanzen, und weil ihre Freundinnen keine Lust hatte, ist sie alleine hin. Und da ist Georg Müller, dessen Frau vor ein paar Jahren gestorben ist und der seitdem viel alleine ist. "Ich komme wegen der Unterhaltung und der Gesellschaft hierher", sagt er.

Im kommenden Jahr plant Ralf Otto auch eine regelmäßig stattfindende DanceOn-Party, kommen dürfen nur Menschen, die entweder bereits in einer Tanzstunde waren oder von einem Teilnehmer eingeladen worden sind. "Wer arm ist, leidet besonders darunter, nichts mehr verschenken zu können", erklärt Otto. Durch die Einladung zur Party könnten die Teilnehmer Freunden und Familie eine Freude machen. Otto würde für die Fete gerne jemand Bekanntes ans Klavier setzen, Christian Ude zum Beispiel oder Konstantin Wecker. Angefragt hat er sie noch nicht. Aber Georg Müller und die anderen würden sich darüber freuen, da ist sich Otto ganz sicher.

© SZ vom 15.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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