Süddeutsche Zeitung

Tod von Hans-Jochen Vogel:"Ein Politiker der Extraklasse"

Weggefährten erinnern sich an ihre Begegnungen mit Hans-Jochen Vogel. Mit seiner Prinzipientreue und seiner perfekten Vorbereitung erwarb er sich nicht nur bei Parteifreunden Respekt.

Von Peter Fahrenholz, Ingrid Fuchs, Franz Kotteder und Heribert Prantl

Hans-Jochen Vogel hat seine letzte Ruhestätte gefunden. Der Münchner Alt-OB, ehemalige SPD-Chef und ehemalige Bundesminister war am 26. Juli im Alter von 94 Jahren gestorben. Am Freitagnachmittag nahmen Angehörige und Freunde in der Benediktinerabtei St. Bonifaz in München Abschied, der Gottesdienst fand auf Wunsch der Familie nur im kleinen Kreis statt. Am Montag findet nun die offizielle Trauerfeier statt, mit dabei viele langjährige Weggefährten, die ihre ganz eigenen Erinnerungen mit Hans-Jochen Vogel verbinden.

Reibereien beendet

Hans Maier, 89, Politikwissenschaftler und CSU-Politiker: "Mit Hans-Jochen Vogel stand ich lange Zeit nicht auf bestem Fuß. Es mag an seiner persönlichen Eigenart, an seiner manchmal recht dominanten Art gelegen haben - und natürlich auch an den unvermeidlichen politischen Reibungen zwischen CSU und SPD in der Zeit von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Mit seinem Bruder tat ich mich leichter. 'Mein Vogel hieß Bernhard.' Beide waren wir in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts politikwissenschaftliche Assistenten gewesen, er bei Dolf Sternberger in Heidelberg, ich bei Arnold Bergstraesser in Freiburg. Gemeinsam gaben wir später ein Jahrbuch heraus und arbeiteten in der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen.

Doch dann kam die Wende mit Hans-Jochen Vogel, es war schon im neuen Jahrhundert. Von einer Geburtstagsfeier mit Erhard Eppler kommend, bei der Vogel und ich gesprochen hatten (Eppler war Präsident des Evangelischen Kirchentages gewesen, ich hatte mehreren Katholikentagen vorgestanden), landeten wir beide bei der Rückfahrt von Tübingen nach München plötzlich im Bahnhof der Hölderlinstadt Nürtingen. Die Lokomotive hatte ganz unerwartet ihren Geist aufgegeben. Wir saßen mehrere Stunden beisammen, bis ein neuer Zug kam. Wir kamen ins Gespräch, tauschten unsere Biografien aus. Rasch erkannten wir: so schlimm, wie man gedacht hatte, war der andere gar nicht. Die parteipolitischen Klischees verblassten. Wir schieden voneinander in bestem Einvernehmen, in der Absicht, miteinander Verbindung zu halten und voneinander zu lernen. Seit dieser Zeit haben wir uns - auch durch Vermittlung von Albert Scharf - regelmäßig gesehen, haben miteinander diskutiert und korrespondiert. Ein fast freundschaftliches Verhältnis entstand. Zustimmend hat Hans-Jochen Vogel 2011 meine Erinnerungen in einem persönlichen Brief gewürdigt. Neben das anhaltende Interesse für die Zeitgeschichte trat bald die gemeinsame Sorge um Entwicklungen in der katholischen Kirche. Vogel war ein eifriger und genauer Leser des 1993 erschienenen 'Katechismus der Katholischen Kirche'. Vor allem die Ausführungen über Tod und Gericht interessierten ihn. Manches irritierte ihn auch. In Briefen konfrontierte er mich immer wieder - oft bohrend - mit theologischen Streitfragen. Sie leichtsinnig wegzuwischen - wie es meinem nicht eben grüblerischen Naturell entsprach - verwies er mir streng.

Nun ist er den Weg gegangen, den wir alle gehen. Ich bewahre ihm ein gutes Andenken. Figuren dieser Größenordnung gibt es in der deutschen Politik nicht viele und nicht häufig."

Treuer Begleiter

Sepp Binder, 80, stand Hans-Jochen Vogel in seiner gesamten Bonner und Berliner Zeit als Sprecher zur Seite - unter allen Umständen, wie ein Foto aus dem Jahr 1990 beweist. Es zeigt Binder mit dick eingegipstem und hochgelagertem Bein, wie er telefonierend am Schreibtisch sitzt, um ihn herum stapelweise Akten. Wie sich die beiden Männer gefunden haben? "Ende der Sechziger habe ich als junger Journalist bei der Zeit in Hamburg angefangen, da war Vogel noch Oberbürgermeister in München. Ich hatte einige Male über ihn geschrieben, da rief er irgendwann an und sagte, wenn ich mal in München sei, solle ich doch vorbeikommen, um zu reden. Als er 1972 in den Bundestag gewählt und sofort Bauminister wurde, rief er wieder an und fragte, ob ich sein Sprecher werden wolle. Ich wurde erst einmal für ein Jahr beurlaubt und wir haben gemeinsam in Bonn angefangen. Auch als Vogel Justizminister wurde, blieb ich. Im Januar 1981 kam dann die Anfrage, ob er nach Berlin gehen könne, um Regierender Bürgermeister zu werden. Er rief mich sofort zu Hause an, mittags um halb zwölf war das, er sollte um zwölf Uhr zum Kanzler, der wollte, dass er das Amt übernimmt. Vogel hatte erst mit seiner Frau gesprochen, dann mit mir - so sind wir nach Berlin gegangen. Ich blieb auch, als er SPD-Fraktionschef und SPD-Vorsitzender wurde, ich blieb, bis Vogel in den Ruhestand ging."

Eifersüchtige CSUler

Christian Schottenhamel, 57, Wiesnwirt in fünfter Generation in der Festhalle Schottenhamel und Kreisvorsitzender des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) München: "Meine Eltern waren mit ihm befreundet, er hat ja auch immer am ersten Wiesn-Samstag im Schottenhamel-Zelt angezapft, wie sich das seit dem Wimmer Dammerl (Thomas Wimmer, Münchens OB von 1948-1960; Anm. d. Red.) gehörte. Wir Kinder durften damals auf dem Fass sitzen, waren also hautnah dabei! Ich erinnere mich gut daran, wie er manchmal uns Kinder in den Arm nahm und drückte. Unsere beiden Familien haben des öfteren sogar zusammen Urlaub gemacht, als er nicht mehr Oberbürgermeister war. Zwischen ihm und meinem Vater, das war wirklich eine enge und gute Freundschaft, und ich glaube, die eine oder andere CSU-Größe war da lustigerweise fast ein bissl eifersüchtig, weil sie meinte, so eng müsse man ausgerechnet mit einem Sozi ja nun wirklich nicht sein."

Moralische Kraft

Franz Maget, 66, jahrelang SPD-Fraktionsvorsitzender im Bayerischen Landtag und zweimal Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten: "Mit Hans-Jochen Vogel über Gott und die Welt zu sprechen, war immer ein großer Gewinn. Bis zuletzt haben wir unsere Gespräche und Zusammenkünfte gepflegt - persönlich oder in kleiner Runde mit Weggefährten. Sein Körper gehorchte ihm in den letzten Jahren nicht mehr so, wie er wollte, aber sein Kopf, sein Verstand, seine analytischen Fähigkeiten und sein schon fast beängstigend gutes Gedächtnis standen ihm nach wie vor zur Verfügung. Diese Begegnungen mit ihm werden mir sehr fehlen. Auch weil von ihnen immer eine besondere moralische Kraft ausging: Unbestechlich, prinzipienfest und am Gemeinwohl orientiert postulierte er seine Gedanken. Von seinen Mitstreitern verlangte er viel, aber nie mehr als er sich selbst stets auferlegte. Privilegien hat er nie beansprucht und stets verabscheut. In München fuhr er Straßenbahn und mit der Bahn in der 2. Klasse. Die Menschen haben das genau gespürt: Hier ist ein Politiker der Extraklasse und ein bürgernaher noch dazu."

Ein großer Demokrat

Richard Süßmeier, 89, Wiesnwirt von 1958 bis 1984 und Wirtesprecher seit 1970: "Wir hatten markante Gespräche miteinander! Er war ein strenger Mann, aber ich habe die allergrößte Hochachtung vor ihm. Er hat sich mit den Argumenten, die wir hatten, immer auseinandergesetzt und ist auch darauf eingegangen. Das macht nicht jeder. Aber er war wirklich ein großer Demokrat, außerdem immer perfekt vorbereitet. Bei seinem Nachfolger Kronawitter hatte ich dagegen öfter den Eindruck, dass er sich vor einem Gespräch im Ratskeller mit den Akten erst im Aufzug von seinem Amtszimmer runter beschäftigt hat."

Begegnung als Schüler

Peter Gauweiler, 71, CSU-Politiker und Rechtsanwalt, ist gerade auf einer griechischen Insel, als ihn der Anruf der SZ erreicht. Eine Anekdote mit Hans-Jochen Vogel fällt ihm sofort ein: "Mein erstes Erlebnis mit Vogel war 1966 oder 1967, da war ich noch Schüler in München. Wir hatten für eine Resolution gegen die Preiserhöhung von Trambahn-Tickets Unterschriften gesammelt und wollten diese übergeben. Ich bin 20 Jahre jünger als Vogel, wir haben ganz unverschämt um einen Termin beim Oberbürgermeister gebeten. Zu dritt haben wir die Resolution überreicht. Die Süddeutsche Zeitung hat damals sogar berichtet, ein junger Volontär war vor Ort, er hieß Christian Ude. Vogel hat mich bei dem Termin damals sehr beeindruckt, wie gut und respektvoll er uns Schüler behandelt hat. Gebracht hat es allerdings nicht viel: Er blieb bei seiner Meinung, wir blieben bei unserer."

Werte, die bleiben

Günter Steinberg, 81, Wiesnwirt vom Hofbräuzelt, erinnert sich an eine frühe Begegnung mit Vogel: "Er war damals Oberbürgermeister, als ich 1966 Faschingsprinz der Narrhalla wurde. Damals hat der OB bei der Inthronisation eine Ansprache gehalten und symbolisch die Schlüssel der Stadt übergeben. Vogel sagte: 'Wenn ich den Prinzen und die Prinzessin so sehe, dann muss ich immer an Goethes Götz von Berlichingen denken . . .'. Wir haben dann wohl ziemlich verblüfft geschaut, er lachte und sagte dann gleich: 'Nein, nein, es gibt schon noch ein anderes Zitat daraus.'" Später begegneten sie sich häufig, weil beide Mitglieder in einem Verein waren, in dem Politiker und Wirtschaftsleute über die christlichen Werte in unserer heutigen Zeit sprechen: "Die Treffen fanden oft im Hofbräukeller statt, und ich erinnere mich, dass Vogel auch in hohem Alter noch sehr gute Beiträge beigesteuert hat."

Kollegial regieren

Heribert Späth, 82, Bauunternehmer, CSU-Stadtrat von 1972-1984, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks 1988-1996: "Schon mein Vater hatte viel mit Hans-Jochen Vogel zu tun, er war ja vor mir ebenfalls von 1960 bis 1972 Münchner Stadtrat. Vogels ganz großes Verdienst war es in meinen Augen, dass er den Stadtrat als kollegiales Verwaltungsorgan betrachtet hat. Er dachte da nicht in den Kriterien von Regierung und Opposition, das hat erst sein Nachfolger Georg Kronawitter so gesehen, und später dann auch Erich Kiesl. Aber eigentlich ist der Stadtrat ein kollegiales Verwaltungsorgan. Später hatte ich dann als Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks viel mit ihm zu tun, er war damals ja SPD-Parteivorsitzender. Wir haben uns immer sehr gut verstanden. Aber wenn wir miteinander gesprochen haben, dann war immer klar: Das bleibt unter uns. Und davon weiche ich natürlich auch heute nicht ab!"

Immer aufgeschlossen

"Beeindruckend war für mich die Kontinuität in seinem Denken und Handeln", sagt Johano Strasser, 81. Der Schriftsteller und ehemalige PEN-Präsident hatte als Mitglied der SPD-Grundwertekommission viel mit Hans-Jochen Vogel zu tun. "Er war immer sehr aufgeschlossen für jedes gute Argument, egal, aus welcher Ecke es kam." Als Strasser noch in Berlin lebte und Vogel dort kurzzeitig Regierender Bürgermeister war, hatte er ihn zusammen mit einigen Hausbesetzern in seine Wohnung eingeladen: "Das war eine sehr spannende Diskussion. Und man hat gemerkt, wie aufgeschlossen er selbst für Argumente war, die aus einem Milieu kamen, das ihm völlig fremd war."

Einer, der keine Uhrzeit kannte

Heribert Prantl, 67, SZ-Autor, hat zusammen mit Hans-Jochen Vogel das Buch "Politik und Anstand verfasst: "Vogels Pedanterie war im hohen Alter nicht mehr so pedantisch, er hatte gelernt, damit zu kokettieren. Als er eines seiner Bücher "Die Klarsichthülle" nennen wollte ("nur mit Büroklammern, schiebt sich doch alles ineinander, und man findet nichts mehr, furchtbar!"), hat sein Verlag nicht mitgemacht und es stattdessen "Nachsichten" genannt. Dabei war Vogel in seiner großen Zeit als Politiker nicht besonders nachsichtig: Von seinem Urgroßvater, einem Lehrer des römischen Rechts, hat er wohl die juristisch-pedantische Lust geerbt, mit der er mitunter gestandene Abteilungsleiter und Staatssekretäre zum Weinen brachte, weil sie seinem Tempo, seiner Arbeitswut und seinem Wissensdurst nicht gewachsen waren. Er kannte keine Uhrzeit, wenn er beim Arbeiten etwas brauchte - dann rief er einen Mitarbeiter auch noch nachts um elf oder frühmorgen um fünf Uhr an.

Als ich die Rede darauf brachte - das war vor 15 Jahren, als wir unter dem Titel "Politik und Anstand" ein Gesprächsbuch herausbrachten - tat er gern so, als sei all das Reden von Akribie und Pedanterie nur gut erfunden, und er rief dann schnell: "Liserl, bringst uns bitte noch einen Kaffee?" Liserl war seine Frau - und er ging mit ihr so liebreizend um, dass jeder, was die eigene Gefährtin betrifft, auf der Stelle ein schlechtes Gewissen bekommt.

Seine häusliche Stimme klang dann ganz anders als sie seinerzeit geklungen hatte, wenn sie zur politischen Rede ansetzte: Dann nämlich funktionierte Hans-Jochen Vogel so ähnlich wie eine Orgel. Da war es, als ob erst der Blasebalg sich mit Luft füllte, und dann strömte es in satten, vollen Tönen aus ihm heraus; dann dröhnte und brauste es, dann konnte er auch schneidend, warnend, klagend und werbend sein: So hat er seinerzeit, auf dem Asylsonderparteitag der SPD in Bonn, sich selbst und seine Partei entgegen seiner langjährigen Überzeugung von der Richtigkeit einer Änderung des Grundgesetzes überzeugt.

Ein Jahr vorher hatte er noch, nach den ausländerfeindlichen Krawallen in Rostock, einen warnenden Brief an Björn Engholm geschrieben, seinen Nachfolger als Parteichef: "Der verhängnisvolle Eindruck entsteht, es muss nur jemand Molotowcocktails schmeißen, und schon bewegt sich die Politik." Vogel hat später oft erklären müssen, warum er dann zuletzt gleichwohl für die Grundgesetzänderung geworben habe. Er wollte, sagt er, "das Auseinanderbrechen der SPD verhindern". Diese Begründung hätte auch von Herbert Wehner stammen können."

Visionäre Taten

Alois Glück, 80, CSU-Politiker und ehemaliger Präsident im Bayerischen Landtag: "Als junger Politiker habe ich Hans-Jochen Vogel als Oberbürgermeister von München erlebt. Manche SPD-Kollegen im Landtag haben gejammert, dass er zu perfektionistisch sei. Er war jemand, der zu seinen Überzeugungen stand. Umso faszinierender finde ich, was er alles vorangetrieben hat. Er hat Olympia geholt und vieles umgebaut - er war visionär und hat München im Vergleich zu anderen Städten um Jahre voraus gebracht. Auch große Neubauprojekte wie Neuperlach waren fortschrittlich und für damalige Verhältnisse großstädtisch. Als Hans-Jochen Vogel 1974 für die SPD als bayerischer Ministerpräsident kandidierte, machte er aber Fehler, er hat die Stimmung auf dem Land unterschätzt. "Was macht es schon aus, wenn im Bayerwald mehr Bäume wachsen?", hat er gefragt, die Entwicklung dort war ihm nicht so wichtig. Damit hat man keine Chance als Ministerpräsident in Bayern."

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Quelle:
SZ vom 03.08.2020/fa/infu/fjk/pra/imei
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