Süddeutsche Zeitung

Parteitag der Grünen:"Stretcht euch daheim, streichelt die Haustiere"

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Unter Corona-Bedingungen haben die Münchner Grünen eine neue Spitze gewählt. Die digitalen Zuschauer wurden zwar hin und wieder vertröstet, aber: Es war ein denkwürdiger Parteitag.

Von Heiner Effern, München

Da werden sie grad an die Spitze der Partei gewählt, für die sie brennen und die bei den letzten Wahlen in der Stadt auch noch ordentlich abgeräumt hat, und dann stellt sich die befremdliche Frage: Wohin mit der Freude? Keine Umarmung ist erlaubt, keine Handschlag, nicht einmal ein dezenter Ellbogen-Check. Sie dürfen wie alle anderen Teilnehmer des Parteitags nicht mal ihren Platz verlassen. Und die Maske muss oben bleiben. Als Ursula Harper, 54, und Joel Keilhauer, 28, später von diesem Moment erzählen, als sie Stadtvorsitzende der Grünen wurden, legt sich Harper die Arme vor die Brust. So, als ob sie sich wenigstens kurz selbst umarmen wollte. "Ich freue mich auf den Impfstoff", sagt ihr Co-Chef Keilhauer trocken.

Die Grünen haben am Samstag also ein neues Führungsduo gewählt. Doch die eigentliche Nachricht könnte auch lauten: Die Grünen haben es einigermaßen vernünftig hinbekommen, trotz Corona und der am Freitag nochmals gestiegenen Infektionszahlen ein neues Führungsduo zu wählen.

Sie warfen dafür nochmals kurzfristig das Programm des Parteitags über den Haufen, den sie schon in zwei Teilen angesetzt hatten: vormittags die Infos und die Rede von Bürgermeisterin Katrin Habenschaden als Livestream, nachmittags die Vorstellung der Kandidaten und die Wahl wie rechtlich vorgeschrieben bei einem persönlichen Treffen in der kleinen Olympiahalle. Um dieses zu kürzen und zu entzerren, mussten sich auch die Bewerber um die Ämter im Stadtvorstand digital vorstellen. Ein Teil der Besucher wird nachmittags auf das grüne Dach der Halle verpflanzt, wo jeder mit Absperrgitter und Flatterband eine Rasenzelle zugewiesen bekommt und über Lautsprecher mithören kann. Abgestimmt wird elektronisch, die Geräte werden desinfiziert in Papier-Butterbrottüten gereicht.

"Ich bin nun seit 1994 dabei, aber so einen merkwürdigen Parteitag habe ich noch nicht erlebt", sagt die bisherige Stadtvorsitzende Gülseren Demirel. Sie scheidet wie auch ihr Kollege an der Spitze, Dominik Krause, vorzeitig aus ihrem Amt aus. Beide wollen sich künftig auf ihre Mandate konzentrieren, Demirel im Landtag und Krause als Fraktionsvize im Stadtrat. Dafür durften sie zum Abschied zusammen mit dem Stadtbüro einen wohl historischen Parteitag organisieren. Das Publikum dankt es mit langem Applaus in der Olympiahalle.

Auch für die vier Bewerber um die Nachfolge gestaltet sich der Parteitag schwierig. Sie stellten sie in der praktisch leeren Halle vor, in der die Grünen für diesen digitalen Teil des Parteitags eine Art Fernsehstudio eingerichtet hatten. "Man sucht sich eine Person in der Halle, zu der man spricht, weiß aber nicht, ob man in die Kamera spricht", sagt Harper. Letztlich hat es funktioniert wie der gesamte Parteitag, auch wenn mal ein Video nicht lief, eine Stellungnahme nicht eintraf und die Technik immer wieder "eine Minute" brauchte, um alles am Laufen zu halten. "Stretcht euch daheim, streichelt die Haustiere" wurden die digitalen Zuseher da vertröstet. Es dürfte nun viele sehr bewegliche Mitglieder und sehr glückliche Haustiere bei den Grünen geben.

Die beiden glücklichsten Menschen in der Halle dürften Harper und Keilhauer gewesen sein. Sie setzten sich gegen Kornelia Wagner und Arne Brach durch. Die geborene Münchnerin Harper arbeitet als freiberufliche Grafikerin und Illustratorin von Kinderbüchern. Bei den Grünen ist sie seit 2017 aktiv. Unter anderem engagiert sie sich im Tierschutz und im Antifaschismus, derzeit ist sie Fraktionssprecherin der Grünen im Bezirksausschuss Moosach. Keilhauer ist in Zwiesel geboren und seit 2009 Mitglied der Grünen. 2011 kam er zum Studium der Politikwissenschaften nach München, die Bachelor-Arbeit ist er noch schuldig. Dafür absolvierte er eine Ausbildung zum Kinderpfleger an und arbeitete in diesem Beruf drei Jahre in der Glockenbachwerkstatt. Nach dem großen Wahlerfolg der Grünen bei der Landtagswahl trat er die Stelle als persönlicher Referent der Abgeordneten Verena Osgyan an.

Die neuen Stadtchefs geben für ihre Amtszeit, die beide gerne im Frühjahr zum regulären Wahltermin um zwei Jahre verlängern würden, drei Ziele aus: Sie wollen die mit mehr als 3000 Mitgliedern immer breiter werdende Basis enger einbinden, ein Scharnier zur Stadtratsfraktion sein und einen Bundestagswahlkampf organisieren, der die grüne Erfolgsserie fortsetzt. "Wir haben eine absolute Chance auf die Direktmandate", sagte Harper. Das wird "kein Spiel auf Platz", sagte Keilhauer.

Am Vormittag hatte Bürgermeisterin Habenschaden im digitalen Teil eine Bilanz der ersten Monate der grün-roten Koalition gezogen. "Pop-up-Bike-Lanes, Schanigärten, Sommerstraßen. In kürzester Zeit haben wir im öffentlichen Raum mehr positive Veränderungen geschaffen als die GroKo in sechs Jahren."

Auch wenn das Regieren mit dem Virus kompliziert sei, gebe es keinen Grund zu jammern. Gerade in diesen auch finanziell schwierigen Zeiten, sei es sehr wichtig, dass die Grünen an der Regierung seien. Corona habe die "grünen Deckmäntelchen" der anderen Parteien in wenigen Wochen weggeweht. Man werde alles geben, um die Stadt gut durch die Pandemie zu bringen, aber auch die eigenen Projekte weitertreiben. "Wir Grüne müssen, wir werden all das umsetzen, wofür uns die Münchnerinnen und Münchner gewählt haben", kündigte Habenschaden an. Die Grünen müssten das Momentum nützen. "Jetzt ist unsere Stunde."

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SZ vom 21.09.2020
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