Bühne:Ein Bett im Rathaus

Bühne: In "Frock" erobert die Stopgap Dance Company aus Surrey den öffentlichen Raum - nun auch beim Grenzgänger-Festival in München.

In "Frock" erobert die Stopgap Dance Company aus Surrey den öffentlichen Raum - nun auch beim Grenzgänger-Festival in München.

(Foto: Chris Parkes Photographer Ltd.)

Die 10. Ausgabe des Grenzgänger-Festivals zeigt die aktuellen Spielarten des inklusiven Theaters - und diesmal besonders viel Tanz.

Von Sabine Leucht, München

Zum Kehraus gibt es Suppe, zum Auftakt ein Spiel mit der Schwerkraft. "Gravity and other attractions" eröffnet am Freitag, 1. Juli, das 10. Grenzgänger-Festival im Carl-Orff-Saal des Gasteig. Gefolgt von "Dueto" von Diana Niepce: zwei kurze Stücke, die den Raum aufmachen, in dem sich inklusives Theater zur Zeit bewegt. In "Dueto" feiert die portugiesische Tänzerin und Choreografin, die nach einem Trapezunfall gelähmt war, "den Körper in seiner Rohheit" und ungeschützten Zerbrechlichkeit. "Gravity" stammt von der Kompanie Un-Label, einer jener Vorkämpferinnen in Sachen Kunst und Inklusion, die schon mit ihrem Namen verraten, dass sie sich Stempel und Schubladen verbitten.

Die Kölner haben etwas entwickelt, was sie "Aesthetics of access" nennen. Sie setzen die Hilfsmittel zur Schaffung von Barrierefreiheit bewusst künstlerisch ein. In "Gravity" beschreiben Audiodeskription und Gebärdensprache den Tanz und das, was sonst auf der Bühne passiert, also nicht nur für jene Theaterbesucher, die darauf angewiesen sind, sondern sie ziehen auch für alle anderen eine neue ästhetische Ebene ein. Wenn Lolo (Sarah "Sarena" Bockers) auf Englisch und in Worten erzählt, wie sie und Tiki sich zum ersten Mal getroffen haben, erzählt Dodzi Dougban gleichzeitig gebärdend dasselbe aus seiner Perspektive. Wer nicht sehen kann, bekommt von der das Geschehen minutiös dokumentierenden, aber auch poetischen Audiospur einen Eindruck davon.

Klingt kompliziert, ist aber schon im Video eine spannende Sache, die unterschiedliche Erfahrungsmöglichkeiten bietet, aber keinem den kompletten Durchblick in diesen "circle of attractions" verschafft, der vom ersten Schwebezustand über den Knall des Sich-Verliebens bis zu kurzen Szenenschnipseln aus dem Beziehungsalltag reicht, die optisch so wirken, wie wenn man durch ein Fotoalbum blättert. Bilder, Töne, Beschreibungsebenen - "alles greift hier wunderbar ineinander" schwärmt auch Lorenz Seib, der das Grenzgänger-Festival gemeinsam mit Anette Spola leitet, das zum Jubiläum unter anderem mit dem Volkstheater, dem Kulturzentrum Luise und dem Gasteig etliche neue Partner mit an Bord hat. Damit ist die inklusive Bühnenkunst auch räumlich in ganz München angekommen. Die Berliner Tänzerin Angela Alves hat ihr Bett, in dem sie in "Rest" individuelle Audienzen gewährt, sogar mitten im Rathaus aufgebaut.

"Wir haben uns nie ein Thema gesetzt."

Dass unter den zwölf eingeladenen Produktionen aus sieben Ländern heuer etliche tänzerische sind, ist laut Seib keine Richtungsentscheidung. "Wir haben uns nie ein Thema gesetzt, sondern immer nach dem Neuen und Spannenden gesucht." Diesmal war da eben viel Tanz dabei - und Paradebeispiele des Self Empowerment. In "Frock", dessen Titel weniger auf den phonetisch ähnlichen "Frosch" ("Frog") anspielt als auf die (Achtzigerjahre-)Röcke, die hier alle Männer tragen, erobert die Stopgap Dance Company aus Surrey den öffentlichen Raum - eine Company, in der es sichtlich Tänzer gibt, die größere Sprünge oder tiefere Knickse als andere machen. Aber auch der Kollege im Rollstuhl regt die anderen zu Bewegungserfindungen an. Meister darin ist der Wiener Choreograf, Performer und Tanztheoretiker Michael Turinsky, dessen 2018 eingeladenes Solo "Heteronomous Male" eine herrliche, produktive Überforderung war. Laut Seib zeigt er auch in "Precarious Moves", dass seine vergleichsweise Immobilität nur eine Art der Mobilität ist, die wir einfach noch nicht gewohnt sind: "Sie mag umständlich wirken, aber auch genauer, und ich finde auch schöner. Ein schalkhafter und auch sehr komischer Abend!"

Theaterfestival Grenzgänger, 1. bis 10. Juli, verschiedene Orte, www.grenzgaenger-theater.de

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