München:Greifbares Licht

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Florian Lechner hat aus Granit, Holz und Glas die Gedenkstätte für Föten und totgeborene Kinder im Westfriedhof geschaffen

Von Nicole Graner

Gekämpft, gehofft und doch verloren." Was immer geschehen sein mag mit dem kleinen Roko. Er lebt nicht mehr. Er hat es nicht geschafft. Die drei Verben sind der Ausdruck des Schmerzes, den die Eltern wohl kaum beschreiben können, den sie aber irgendwie teilen möchten und an einen Ort tragen, der ihre tiefe Trauer auffängt. Der Wind hat die Blätter des vergangenen Herbstes an der Gedenkstätte für Föten und totgeborene Kinder im Westfriedhof über alle Attribute der Liebe geweht - über Engel, Herzen und Steine. Sie symbolisieren am rechten Ort den Kreislauf des Vergänglichen, des Wachsens und des Werdens. Wie auch die Gedenkstätte im Lindenhain des Friedhofs Tod und Leben, das Ende, aber auch den Neubeginn zu einer Einheit werden lässt.

Auf einem gepflasterten Kreis stehen fünf Granit-Stelen. Asymmetrisch angeordnet. Wie zufällig abgestellt. Vor einigen liegen Steinwürfel, die kleine Sitzquader sind. Die anderen begrenzen, schützen - so wirkt es fast - den ganzen Raum und den Mittelpunkt der Gedenkstätte: die sechste Stele und einen Block aus dickem Eichenholz. Sie stehen leicht schräg versetzt und sind verbunden: durch ein zart blaues Glasfenster, durchsetzt von einem wolkenweißen Band. Durchsichtige Blasen, wie kleine Perlen, durchziehen das Glas. Darauf geschrieben das Gedicht "Auf den Tod eines Kindes" von Ludwig Uhland (1787-1862): "Du kamst, Du gingst mit leiser Spur/Ein flücht'ger Gast im Erdenland/Woher? Wohin?/ Wir wissen nur (aus Gottes Hand) in Gottes Hand". Dann scheint plötzlich ein Sonnenstrahl durch das Glas. Erhellt den kleinen Raum, wirft blaues Licht auf die Stelen, die den Kreis umgeben - und vielleicht auf das Gesicht von Mutter oder Vater, die direkt auf dem Sitzquader vor dem Dreierblock ihrer Trauer Zeit geben. Und jenem Lichtstrahl womöglich Hoffnung beimischen können.

Eine Granit- und eine Eichen-Stele bilden das Zentrum des Kunstwerks. Sie stehen leicht schräg versetzt und sind verbunden durch ein zart blaues Glasfenster. (Foto: Moses Omeogo)

Wer hat diese so still und klar wirkende künstlerische und empathische Einheit geschaffen? Kein Name steht auf Stein, Glas oder Holz. Der renommierte Künstler heißt Florian Lechner. 2009 hat er die Gedenkstätte entworfen. Wie oft in seinen vielfach ausgezeichneten Arbeiten, mischt er Materialien. Aber vor allem um eines in den Mittelpunkt zu rücken: das Glas. Dessen Leuchten steht stets im Zentrum von Lechners Werken, wie die Kraft, die von den vielen Facetten der Transparenz ausgeht.

Der Künstler steht an einem kalten Vorfrühlingstag im Stelen-Kreis. Mit großem Hut und einen Schal um den Hals gebunden. Er berührt den Granit, streicht über das Glas und sagt: "Ja, ich brauche immer Materie, Substanz. Und für diesen besonderen Raum hier steht für mich das Holz für das Leben, der Stein für die Erde oder die Basis und das Glas natürlich für Licht." Einen Gleichklang, eine Balance wollte der 81-Jährige schaffen, wo der Tod und das Leben, trotz aller Unbegreiflichkeit beim den Tod eines Kindes, zusammengehören. Sich, wie er sagt, "begegnen müssen". Und weil alles unbegreiflich ist, sind die Stelen asymmetrisch angeordnet. Zweimal paarweise. Ein Granitblock aber steht allein, wie wohl der Mensch auch die Trauer letztlich mit sich allein ausmachen muss. Gleichzeitig sind die hohen Steine eine Art versinnbildlichte Rückenlehne. "Sie sollen Kraft geben, die Trauernden stärken, wenn sie hier sitzen", sagt Lechner. Alles hat er bedacht, alles hat seinen Sinn. Schon der Platz an sich - geborgen und inmitten von Grün. Und die genaue Platzierung der hellblauen Glasscheibe. Sie ist das visuelle Zentrum, der Kraftspender.

Florian Lechner ist von den Fenstern gotischer Kathedralen inspiriert. (Foto: Moses Omeogo)

Blickt man durch das Glas und dann hinauf in den Himmel, sind die Grenzen verrückt. Ist der Himmel das Glas oder umgekehrt? Und dann das Sonnenlicht. Es durchbricht das Blau, zerteilt es in kleine Glanzpunkte. Die Tropfen im Glas glänzen, wie die Wasseroberfläche eines stillen Sees. Der Künstler weiß genau, wie er diesen Moment beschreibt. "Es ist wie ein gedankliches Hindurchgehen, es hat etwas Jenseitiges". Dieses Licht mache Mut, die Perspektive zu wechseln, zum Beispiel von der anderen Seite durch das Glas zu schauen. Denn wenn man das tue, erklärt der Künstler mit leiser Stimme und einem Lächeln auf dem Gesicht, dann wärme die Sonne den Rücken des Betrachters.

Glas und Licht - das sind Zauberworte für Florian Lechner, seine künstlerische Sprache, mit der er in seinen Arbeiten alles zum Ausdruck bringt: eine ungebändigte Schaffenskraft, die Freude am Leben, aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik eines jeden Kunstwerks. Für Lechner wirkt in Anlehnung an die im zwölften Jahrhundert kunstvoll gestalteten großen Fenster in den Kathedralen das Zusammenspiel von Licht und Glas wie eine "Botschaft". Eine Kathedrale ist es dann auch, die ihm als jungem Studenten der Kunsterziehung an der Werkakademie in Kassel die Liebe zum Material Glas ins Herz pflanzt. Und zum Licht. Auf einer Reise nach Chartres besucht er Ende der Fünfzigerjahre auch die Kathedrale. Er spürt, wie ihn das Licht, das durch die bunten, oft in blau gehaltenen riesigen Fenster scheint und in der Kirche neue Glanzpunkte setzt, zutiefst berührt. Das neu komponierte und verteilte Licht auf den Marmorböden oder den gotischen Säulen, manchmal wie kleine Tupfen, manchmal wie strahlende Linien wurde, so sagt Lechner und erinnert sich genau an diesen Moment, "für mich plötzlich physisch wahrnehmbar". Materialisiertes Licht zu schaffen - eine, seine Vision war geboren.

Das Zentrum der Gedenkstätte. (Foto: Moses Omeogo)

1961 schließt der an Malerei und gleichermaßen an Architektur interessierte junge Mann sein Studium ab, im Herzen lichtdurchflutete Räume, durch das Glas gebündelte Prismen. Hartnäckig verfolgt er seine Vision und entwickelt das Schmelzglas, das bei 800 Grad auf einem Sandbett geschmolzen wird. In diesem Zustand lässt sich das Glas verbiegen oder wie Lechner sagt "bewegen". Lechner ersetzt Beton durch durchscheinende Glaswände, schafft hohe Skulpturen (Glasbrunnen, Bayerische Landesbank, München 1982) oder - sehr naheliegend - auch Fenster (Flughafenkapelle München). Auch dass die Farbe blau immer eine große Rolle spielt, verwundert nicht. Zu sehr ist Chartres doch im Unterbewussten verwurzelt.

Womit sich der Kreis zur Gedenkstätte im Münchner Westfriedhof wieder schließt. Das Blau des Himmels im Glas, das Durchscheinende - Lechner filtert Essenzen, reduziert auf das Wesentliche. Im Falle der Gedenkstätte ist es eben jene einzelne Glasstele, die alles aussagt, alles bündelt: der Tod, das Leben, Nähe und Ferne, das Glück und den Schmerz.

Bis heute lebt der gebürtige Münchner und Vater von sieben Kindern in seinem Atelier in Nußdorf am Inn seine Vision, ist aktiv und voller Kraft. Ein Gespräch mit ihm gleicht einem gelebten Exposé der Geschichtes das Glases, einem Abstecher in die Architektur und die Philosophie. In die Musik. Auch sie ist Teil seines Lebens. Sein Vater, Konrad Lechner, war Komponist und Leiter des Münchner Bachchors sowie der erste Dirigent und Namensgeber der Bamberger Symphoniker, seine Mutter eine bekannte Pianistin und Cembalistin. Und schon wieder könnte man Geschichten lauschen.

Durchsichtige Blasen durchziehen wie kleine Perlen das blaue Glas im Zentrum der Gedenkstätte. (Foto: Moses Omeogo)

"Ich bin wie zwei Luftballons", sagt Florian Lechner auf seine stille und bescheidene Art. Er lacht in sich hinein, seine Augenbrauen ein bisschen nach oben gezogen: Er brauche die Luft zum Fliegen, aber habe stets die Sehnsucht nach "Erdung". Diese Sehnsucht tragen alle seine Werke in sich. Wie die Gedenkstätte auf dem Münchner Westfriedhof. Auch sie wirkt auf wunderbar präsente Weise einem traurigen Phänomen entgegen: der Entsinnlichung unserer Zeit.

© SZ vom 09.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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