Silke Teschke ist 59 Jahre alt, als in ihrer Hand das erste Mal eine Dose zischt. Das Sprühen gefällt ihr sofort, die ausladenden Armbewegungen, die nötig sind, um eine Wand künstlerisch zu bezwingen, so ganz anders, als wenn man mit dem Pinsel an der Leinwand steht. „Ich fand’s cool. Das ist wie beim Tanzen, man kann weit nach vorn und wieder zurückgehen“, erklärt Teschke und vollführt ein Tänzchen vor einem Betonpfeiler der Brudermühlbrücke, über den sich in Knallfarben das Graffito einer liegenden Dame erstreckt. Ein blauer Schal mit gelben Sternchen schmiegt sich an ihre Kurven.
Es ist Teschkes Werk, und natürlich hat die Münchnerin auch diesmal mit „f3000“ gearbeitet, ihrer Lieblingsfarbe, einem Neonton zwischen Orange und Rot. Das Graffito der Dame mit dem Europaschal ist im Zuge des „Dösenöffners“ entstanden. Seit 1996 gibt es das vom Kulturreferat geförderte Kunstprojekt der „Färberei“, einer Einrichtung des Kreisjugendrings (KJR). Künstler dürfen dabei gemäß einer „Gestattungsvereinbarung“ mit der Stadt den Sommer über an den Pfählen der Brudermühlbrücke kreativ werden.
Den meisten Münchnern dürfte die Aktion als „Isart“ ein Begriff sein. Wozu also ein neuer Name? In diesem Jahr erfolge auf mehreren Ebenen eine Erweiterung des Kunstprojekts, erklärt Agnes Andrae, pädagogische Mitarbeiterin der Färberei. Erstmals seien die Glockenbachwerkstatt und das Kulturzentrum Luise als Kooperationspartner dabei. Außerdem darf beim „Dösenöffner“ nicht mehr nur gesprüht, sondern auch mit Pinseln und Rollen gearbeitet werden. Auch die Arbeit von LGBTIQ-Kreativen soll mehr Sichtbarkeit erfahren – und jene von Leuten, deren biologisches Alter sich nicht mit dem Klischee vom hippen Street-Art-Künstler deckt.
Silke Teschke ist ein Beispiel dafür, in diesem August hat sie ihren 62. Geburtstag gefeiert: Mit Käppi und feuerroten Fingernägeln posiert die Münchnerin, die erst in der zweiten Lebenshälfte zur Kreativität gefunden hat, für die Fotografin. Ihr Alter spüre sie bei der Arbeit vor allem, wenn sie sich aus der Hocke erheben müsse, erzählt sie mit einem Schmunzeln. Für den „Dösenöffner“ konnten neben den Künstlerinnen des feministischen Kollektivs „We won’t shut up“ zum Beispiel Greta von Richthofen und Lilee Imperator gewonnen werden – alle jünger als Teschke. „Ich mache alles spät“, erklärt die Münchnerin. Sie habe ja auch erst mit Mitte 50 geheiratet. Doch wenn die Kunst ruft, ist das Alter nur eine Zahl.
18 Jahre lang war die gebürtige Krefelderin bei der Stiftung Pfennigparade in München tätig, erst als Pflegehelferin, später ließ sich Teschke zur Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung in Werkstätten für behinderte Menschen weiterbilden. Sie machte ihren Job gut – und doch kam der Gedanke an die Kunst, die Sehnsucht nach dem befriedigenden Gefühl, etwas mit den Händen zu erschaffen, immer wieder auf.
Als sie nach einem Fahrradunfall im Krankenhaus liegt, sagt sie sich, jetzt oder nie. Weil sie keinen passenden Workshop findet, kauft sie sich ein Buch. Liest, probiert aus, lernt. Und es läuft gut für die Autodidaktin an Münchens Wänden, besonders die „Characters“ – die figürlichen Darstellungen – liegen ihr. 2023 ist sie das erste Mal an der Brudermühlbrücke dabei, auch in diesem Jahr ist sie von den Kuratoren des KJR-Projekts eingeladen worden.
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„Street-Art kann die Generationen zusammenbringen“, sagt Agnes Andrae von der Färberei. Mit der neuen Ausrichtung der Kunstaktion wolle man möglichst unterschiedliche Themen ins Stadtbild bringen. Teschke wählt oft unbekleidete Frauen als Motiv, für sie ein Symbol der Freiheit. Bei Instagram, wo sie unter dem Namen „f3000_streetart“ Einblicke in ihr künstlerisches Schaffen gewährt, fallen außerdem kleinformatige Frauenporträts auf, deren kubistisch angehauchte Gesichtszüge sie in Acryl anlegt.
Gerade baut die Münchnerin ihre Selbständigkeit aus, kontaktiert Verbände und reicht Konzepte bei Ausschreibungen ein, obendrein hat sie ein Kollektiv für Frauen in der Kunst ins Leben gerufen. Kostet das alles nicht ziemlich viel Zeit, Kraft und Mut? „Ich weiß nicht, ob ich viel zu verlieren habe auf den letzten Metern“, sagt Teschke. Ob die Selbständigkeit ihre Rente schmälern oder anheben wird – das werde sich zeigen. In ein Schema pressen lässt sich diese Künstlerin jedenfalls nicht. Momentan lernt sie an den Schalen von Zitrusfrüchten das Tätowieren. Wenn sich das Team vom „Dösenöffner“ Ende Oktober von der Brudermühlbrücke verabschiedet, will sich Teschke an die Haut eines Menschen wagen. Ein wenig Respekt habe sie davor schon, sagt sie. „Ich hoffe, dass ich es schaffe.“