Die meisten Themen, mit denen ich mich in meinem Leben und meiner Arbeit auseinandergesetzt habe, beginnen mit "K": Kinder, Klimawandel, Kunst, Kultur, Karriere, Kriegsfilme, Kapitalismus-(Kritik), Konsum-(Kritik) und natürlich Käsekuchen. Jetzt kommt ein gesprochenes "K" als "C" daher, sozusagen hinterfotzig getarnt und kapert den Großteil meiner täglichen Gedankenwelt. Das Virus hat auch meinen Kopf erobert. Vor einem Jahr saß ich noch mit Freunden, ja, beim Kartenspiel, und wir haben beschlossen, das neue Thema auszublenden. Das ging damals.
Heute steht unser Tun in Verbindung mit dieser infektiösen organischen Struktur. Wir regen uns über die Hilflosigkeit von denen da oben auf, weil wir hoffen, dass die uns doch aus unserer eigenen Hilflosigkeit befreien können. Wir betteln nach klarer Struktur. Mein Beruf hat einen großen Nachteil: Unsicherheit. Ich weiß nie, wann ich wieder Arbeit habe und welche?! Vor allem ist dieser Umstand nicht von mir, sondern vor allem von anderen abhängig. Als Schauspieler ist die Möglichkeit, sich selbst zu engagieren, verdammt begrenzt. Aber diese Unsicherheit führt dazu, dass man sich eine gewisse Resilienz erarbeitet. Sonst ist man nach drei Monaten ohne Job in der Rue de Kack. Ja, klar. Man ist doch ein Kreativer und kann in dieser Zeit doch dann, irgendwie, kreativ sein. Aber dass das nicht so einfach ist, mit der kreativen Nutzung der geschenkten Zeit, haben viele von uns jetzt am eigenen Leib erfahren. Weil sie eben fehlt. Die Struktur.
Wir, die freien Schauspieler, haben gelernt, flexibel zu sein und mit vermeintlichen Gewissheiten skeptisch umzugehen. Das erleichtert die Einschätzung und den Umgang mit unserer aktuellen Situation. Ich weiß, dass viele meiner Kollegen, vor allem, wenn sie nicht in der Lage sind, sich in irgendeiner Form finanziell über Wasser zu halten, das völlig anders sehen. Aber die oben beschriebene Resilienz bezieht sich auch nicht auf unsere Konten, sondern auf unser Mind-Set. Auf die grundsätzliche Bedingung, flexibel sein zu müssen. Jeder Spielpartner ist anders, jeder Regisseur, jede Figur, jedes Stück. Und jetzt müssen wir eben auch flexibel mit so etwas wie "Theateröffnung" umgehen. Natürlich will ich endlich wieder vor Publikum spielen. Ohne Publikum ergibt Theater keinen Sinn. Wir hatten vor zwei Wochen unsere letzte Probe. Die Generalprobe sozusagen. Nur ohne anschließende Premiere. Und vorgestern haben wir so eine Art "Aufwärmprobe" gemacht. Ein aufgewärmtes Gulasch kann ja besser werden. Aber ein aufgewärmter Richard III. schmeckt schal.
Also. Ja. Wir alle wollen wieder unter Menschen. Soziales Leben ist mehr als die Freizeitdreingabe zur Arbeit. Aber ich glaube, dass wir alle von dieser oben beschriebenen selbst kreierten Struktur profitieren könnten. Wir haben erfahren, wie wichtig uns der menschliche Kontakt ist. Dass es etwas Besonderes sein kann, ins Theater oder ins Kino gehen zu können. Dass wir definieren müssen, was uns wichtig ist.
Ich bin gespannt, was passiert, wenn beim nächsten Corona-freien Brückentag die Polizei am Flughafen steht und die Schulpflichtigen einsammelt. Die haben doch jetzt auch ohne Präsenz lernen müssen, dürfen, können. Ob wir realisieren, dass man aufgrund wissenschaftlichen Rats die Welt dichtmachen kann - und es doch schon seit Jahrzehnten keine ernstzunehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt, die nicht dringende Maßnahmen zum Kampf gegen den Klimawandel fordern. Ob wir weiter zu jedem Meeting fliegen müssen, weil wir Zoom-Konferenzen mittlerweile hassen, oder ob wir gelernt haben, dass es ohne geht. Ob Fahrrad fahren weiterhin Spaß macht. Und ob die von der jungen Generation unter großen Entbehrungen geschützte ältere Bevölkerung zum Beklatschen der Jugend auf den Seniorenheim-Balkon tritt.
Auf jeden Fall freue ich mich auf das Neue. Hoffentlich mit mehr Flexibilität. Auf Kunst, Kultur und Käsekuchen.
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