Am 3. September 1786, knapp eine Woche nach seinem 37. Geburtstag, stiehlt sich Goethe aus Karlsbad, wo er zur Kur weilt, bei Nacht und Nebel davon, um nach Italien zu gelangen, dem Sehnsuchtsland, in dem er "Wiedergeburt" und "ein neues Leben" zu finden hofft. Seinem Dienstherrn und Freund, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, hatte er vage mitgeteilt, dass er einige Zeit abwesend sein werde; dem übrigen Weimarer Freundeskreis verriet er nichts, auch nicht Charlotte von Stein, der Vertrauten, der Seelenfreundin, die, weil verheiratet, nur Geliebte im Geiste sein kann.
Mit der Kutsche reist der Geheime Rat Goethe zügig Richtung Süden, am frühen Morgen des 6. September erreicht er München. Unter dem Decknamen Jean Philipp Moeller quartiert er sich im "Schwarzen Adler" in der Kaufingergasse ein, tagsüber besichtigt er unter anderem das Antiquarium in der Residenz, die Hofgartengalerie und das Naturalienkabinett im Gebäude der Alten Akademie. Bereits am nächsten Morgen fährt er weiter.
Es ist Goethes einziger Aufenthalt in München. In seinem Reisetagebuch, das er für die schmählich zurückgelassene Charlotte von Stein schreibt, berichtet er über sein "Münchner Pensum", wobei er über das nasskalte Wetter klagt und über den mäßigen Geschmack von Feigen, die er für drei Kreutzer pro Stück bei einer Frau gekauft hat. Es sind nur ein paar Absätze, die er München widmet, und man spürt, dass ihn die Stadt weder begeistert, noch sonderlich interessiert. Das Antiquarium genauer zu besichtigen hält er für Zeitverschwendung, nur wenige der ausgestellten Skulpturen gefallen ihm, und zudem mangele es an Reinlichkeit. Als Kronzeuge für die Schönheit des kurfürstlichen Münchens ist Goethe ein Totalausfall. Der Olympier hatte für die bayerische Hauptstadt nur einige dürre Worte übrig - und er kam auch nicht wieder.
Es trifft also zu, wenn Kurt Helmut Schiebold über Goethes Tagebucheintrag in puncto München schreibt: "Es bleibt ein kurzer, emotionsfrei gehaltener Bericht ohne Erhellendes. Genau das fordert geradezu eine weitergehende Betrachtung." Diese weitergehende Betrachtung hat Schiebold nun selbst übernommen und ein Buch geschrieben, das soeben im Volk-Verlag unter dem Titel "Goethes Trip nach München" erschienen ist. Schiebold, Jahrgang 1947, war Brigadegeneral der Bundeswehr, lehrt an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und hegt, so der Klappentext, "eine starke Zuneigung zu Goethe, München und Italien".
In der Einleitung beklagt Schiebold, dass es in München keine Gedenktafel gibt mit der Aufschrift: "Hier schlief Goethe auf seiner Durchreise nach Rom im September 1786." Und überhaupt scheine München mit Goethe etwas zu fremdeln, so wie auch Goethe sich für die Stadt nicht habe erwärmen können. Tja, damit muss man als gemäßigter Lokalpatriot wohl leben: In Goethes Biografie wie in seinem Werk spielt München praktisch keine Rolle.
München wiederum hat zumindest eine Goethestraße und einen Goetheplatz, ja sogar ein Goethedenkmal, gut versteckt am Rande des Maximilianplatzes. Doch wollte man eine Gedenktafel anbringen, die an Goethes Übernachtung erinnert, müsste man mit einem Nachfolgebau vorlieb nehmen. Seine damalige Herberge, den "Schwarzen Adler" an der Ecke Kaufinger-/Liebfrauenstraße, gibt es längst nicht mehr.
Schiebolds Vorhaben ist nicht einfach. Welche Spuren hinterlässt ein Mensch, und sei es der große Goethe, während einer rund 24-stündigen Stippvisite? Viele können es nicht sein. Bei dem Italienreisenden aus Weimar sind es in erster Linie dessen eigene, spärliche Notizen. Warum aber verlässt der Geheime Rat, der dem Consilium des Herzogs angehört und der wichtige administrative Aufgaben hat, nahezu fluchtartig das Herzogtum, das seit seinem Eintreffen in Weimar im Jahr 1775 sein Lebensmittelpunkt ist? Goethes eigene Erklärungen lassen viele Fragen offen.
Als sicher darf gelten, was der Literaturwissenschaftler Karl Otto Conrady in seiner großen Goethe-Biografie schreibt: "Es muss eine tiefe, die ganze Existenz betreffende Krise gewesen sein, in die der fast Siebenunddreißigjährige geraten war und der er nicht anders zu begegnen wusste als durch zeitweilige Absonderung von jener Existenz, mit der er seit einem Jahrzehnt zurechtzukommen versucht." Diese Lebenskrise, die auch eine Schaffenskrise war - seit zehn Jahren hatte Goethe kein großes Werk publiziert - , beschreibt Schiebold ziemlich salopp als "Flucht vor sich selbst". Der Dichter, heißt es weiter, "fährt dem gesellschaftlichen Trubel um seinen literarischen Erfolg davon, dem Frust in seinem politischen Amt und der unerfüllten Liebe zu Frau von Stein". D'accord, wenn man's simpel haben will, kann man es so formulieren.