SZ-Serie: Münchner Seiten:Goethes verwischte Spuren in München

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Johann Heinrich Wilhelm Tischbein malte "Goethe in der Campagna" - eine Darstellung, die das Bild des großen Dichters bis heute maßgeblich bestimmt. Auf seinem Weg nach Italien machte Goethe kurz halt in München. Für die Stadt hatte er in seinem Tagebuch nur wenige dürre Worte übrig.

(Foto: Via Bloomberg/Musee du Louvre)

Der Dichter war nur ein einziges Mal auf der Durchreise in der Stadt und war offenbar wenig angetan. Kurt Helmut Schiebold arbeitet den Besuch in einem Buch auf - doch die Recherche ist teils unscharf.

Von Wolfgang Görl

Am 3. September 1786, knapp eine Woche nach seinem 37. Geburtstag, stiehlt sich Goethe aus Karlsbad, wo er zur Kur weilt, bei Nacht und Nebel davon, um nach Italien zu gelangen, dem Sehnsuchtsland, in dem er "Wiedergeburt" und "ein neues Leben" zu finden hofft. Seinem Dienstherrn und Freund, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, hatte er vage mitgeteilt, dass er einige Zeit abwesend sein werde; dem übrigen Weimarer Freundeskreis verriet er nichts, auch nicht Charlotte von Stein, der Vertrauten, der Seelenfreundin, die, weil verheiratet, nur Geliebte im Geiste sein kann.

Mit der Kutsche reist der Geheime Rat Goethe zügig Richtung Süden, am frühen Morgen des 6. September erreicht er München. Unter dem Decknamen Jean Philipp Moeller quartiert er sich im "Schwarzen Adler" in der Kaufingergasse ein, tagsüber besichtigt er unter anderem das Antiquarium in der Residenz, die Hofgartengalerie und das Naturalienkabinett im Gebäude der Alten Akademie. Bereits am nächsten Morgen fährt er weiter.

Es ist Goethes einziger Aufenthalt in München. In seinem Reisetagebuch, das er für die schmählich zurückgelassene Charlotte von Stein schreibt, berichtet er über sein "Münchner Pensum", wobei er über das nasskalte Wetter klagt und über den mäßigen Geschmack von Feigen, die er für drei Kreutzer pro Stück bei einer Frau gekauft hat. Es sind nur ein paar Absätze, die er München widmet, und man spürt, dass ihn die Stadt weder begeistert, noch sonderlich interessiert. Das Antiquarium genauer zu besichtigen hält er für Zeitverschwendung, nur wenige der ausgestellten Skulpturen gefallen ihm, und zudem mangele es an Reinlichkeit. Als Kronzeuge für die Schönheit des kurfürstlichen Münchens ist Goethe ein Totalausfall. Der Olympier hatte für die bayerische Hauptstadt nur einige dürre Worte übrig - und er kam auch nicht wieder.

Es trifft also zu, wenn Kurt Helmut Schiebold über Goethes Tagebucheintrag in puncto München schreibt: "Es bleibt ein kurzer, emotionsfrei gehaltener Bericht ohne Erhellendes. Genau das fordert geradezu eine weitergehende Betrachtung." Diese weitergehende Betrachtung hat Schiebold nun selbst übernommen und ein Buch geschrieben, das soeben im Volk-Verlag unter dem Titel "Goethes Trip nach München" erschienen ist. Schiebold, Jahrgang 1947, war Brigadegeneral der Bundeswehr, lehrt an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und hegt, so der Klappentext, "eine starke Zuneigung zu Goethe, München und Italien".

In der Einleitung beklagt Schiebold, dass es in München keine Gedenktafel gibt mit der Aufschrift: "Hier schlief Goethe auf seiner Durchreise nach Rom im September 1786." Und überhaupt scheine München mit Goethe etwas zu fremdeln, so wie auch Goethe sich für die Stadt nicht habe erwärmen können. Tja, damit muss man als gemäßigter Lokalpatriot wohl leben: In Goethes Biografie wie in seinem Werk spielt München praktisch keine Rolle.

München wiederum hat zumindest eine Goethestraße und einen Goetheplatz, ja sogar ein Goethedenkmal, gut versteckt am Rande des Maximilianplatzes. Doch wollte man eine Gedenktafel anbringen, die an Goethes Übernachtung erinnert, müsste man mit einem Nachfolgebau vorlieb nehmen. Seine damalige Herberge, den "Schwarzen Adler" an der Ecke Kaufinger-/Liebfrauenstraße, gibt es längst nicht mehr.

Schiebolds Vorhaben ist nicht einfach. Welche Spuren hinterlässt ein Mensch, und sei es der große Goethe, während einer rund 24-stündigen Stippvisite? Viele können es nicht sein. Bei dem Italienreisenden aus Weimar sind es in erster Linie dessen eigene, spärliche Notizen. Warum aber verlässt der Geheime Rat, der dem Consilium des Herzogs angehört und der wichtige administrative Aufgaben hat, nahezu fluchtartig das Herzogtum, das seit seinem Eintreffen in Weimar im Jahr 1775 sein Lebensmittelpunkt ist? Goethes eigene Erklärungen lassen viele Fragen offen.

Als sicher darf gelten, was der Literaturwissenschaftler Karl Otto Conrady in seiner großen Goethe-Biografie schreibt: "Es muss eine tiefe, die ganze Existenz betreffende Krise gewesen sein, in die der fast Siebenunddreißigjährige geraten war und der er nicht anders zu begegnen wusste als durch zeitweilige Absonderung von jener Existenz, mit der er seit einem Jahrzehnt zurechtzukommen versucht." Diese Lebenskrise, die auch eine Schaffenskrise war - seit zehn Jahren hatte Goethe kein großes Werk publiziert - , beschreibt Schiebold ziemlich salopp als "Flucht vor sich selbst". Der Dichter, heißt es weiter, "fährt dem gesellschaftlichen Trubel um seinen literarischen Erfolg davon, dem Frust in seinem politischen Amt und der unerfüllten Liebe zu Frau von Stein". D'accord, wenn man's simpel haben will, kann man es so formulieren.

Die Sorgfalt fehlt

Schiebold berichtet, was nicht uninteressant ist, wie die Leute zur damaligen Zeit mit der Kutsche reisten, welche Kleidung sie mitnahmen, wie sie sich wuschen, wo sie übernachteten. Die meisten dieser Fragen kann er nur allgemein beantworten, wie es Goethe im Besonderen hielt, bleibt vielfach im Dunklen. Je weiter man liest, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, dass es sich Schiebold häufig zu einfach macht. Er stellt unentwegt Fragen, die er nicht beantwortet. Gewiss, Recherche ist mühsam, und viele Spuren sind verweht - aber das ist kein Grund, den Leser immer wieder allein zu lassen und ihn am Ende mit den Hinweis zu beruhigen: "Dieses Werk erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch."

Die interessantesten Kapitel sind jene, in denen Schiebold Goethes Münchner Pensum anhand des Tagebucheintrags nachvollzieht. So erfährt man etwa, dass Goethe bei seinem Besuch der Hofgartengalerie neben Rubens' Skizzen zum Medici-Zyklus, die der Meister aus Weimar selbst erwähnt, gewiss auch Werke von Tizian, Caravaggio oder Rembrandt betrachtet hat. Über das Naturalienkabinett der Wittelsbacher schreibt Schiebold, es habe mehr einer Trophäensammlung geglichen als einer systematischen Ausstellung zoologischer, botanischer und mineralogischer Rundstücke, weshalb Goethe nur mäßig begeistert war.

Und dann ist da noch die Turmbesteigung, die Goethe erwähnt, sein Aufstieg auf den nördlichen Turm der Frauenkirche, "von dem sich die (sic) Fräulein herabstürzte". Bei dem Fräulein handelt es sich um Fanny von Ickstatt. Wegen Liebeskummer war die Siebzehnjährige am 14. Januar 1785 vom Nordturm in den Tod gesprungen. Es heißt, sie habe Goethes "Die Leiden des jungen Werther", dessen Held wegen unerfüllter Liebe Suizid begeht, auf dem Nachttisch liegen gehabt. Im Sterbebuch der Pfarrei Unserer Lieben Frau steht zu lesen: "Man sehe sich die Bücher des Mädchens und die heutigen, Selbstmord und Liebschaften lehrenden Schriftsteller an."

Die Anspielung auf Goethe ist überdeutlich. Schiebold erwähnt die Geschichte eher beiläufig, obwohl sie eine - wenn auch tragische - Verbindung zwischen Goethe und München knüpft. Gern hätte man auch erfahren, ob in der Stadt wie fast überall das Werther-Fieber ausgebrochen war und Jugendliche in den gleichen Klamotten herumliefen wie ihr Romanheld. Schiebolds Anliegen, als Goethe- und München-Liebhaber etwas Lesenswertes zu Papier zu bringen, ist gewiss sympathisch; doch es fällt schwer, ihm als Gewährsmann zu vertrauen.

So schreibt er über den Gasthof "Zum Schwarzen Adler": "Das Wirtshaus wird betrieben von Herrn Albert und gehört einem guten Bekannten, wenn nicht sogar Freund Goethes, Karl Ludwig von Knebel." Dies ist eine kühne Behauptung, die Schiebold hoffentlich belegen kann. Doch dürfte dies schwierig werden. Knebel, Goethes "Urfreund" und Erzieher der Weimarer Prinzen, lebte zu dieser Zeit in Weimar und Jena, er war Schriftsteller, Übersetzer und dilettierender Gelehrter auf allen möglichen Feldern - aber dass er eine Immobilie in München besessen hätte: unwahrscheinlich. Und dann auch noch diese: Der Schwarze Adler war das erste Haus am Platz, unter anderem logierte Mozart dort und lieferte sich im Tanzsaal ein Klavier-Wettspiel mit dem Virtuosen Ignaz von Beecke.

Auch der Wirt, "Herr Albert", war nicht irgendwer: Franz Albert, der 1755 Haus und Grundstück gekauft hatte, war Ratsherr und Musenfreund. Wegen seines Kunstsinns nannten die Münchner den allseits beliebten Mann "Musikwirt". Albert hatte sogar versucht, Mäzene zusammenzutrommeln, um Mozart in München zu halten. Dass er sein Etablissement an Knebel verkauft hätte, wäre eine Neuigkeit. Tatsache ist: Sein Sohn Karl Albert, so schreibt Richard Bauer, der einstige Leiter des Stadtarchivs, erwarb 1805 ein Nachbarhaus und vergrößerte den Schwarzen Adler. Augenscheinlich war das Wirtshaus ununterbrochen im Besitz der Familie Albert.

Was aber hat es zu bedeuten, wenn Goethe im Tagebuch schreibt: "Ich wohne auch hier in Knebels Wirtshaus, mag aber nicht nach ihm fragen, aus Furcht Verdacht zu erwecken oder dem Verdacht fortzuhelfen." Schiebold zieht offenkundig den Schluss, Knebel sei der Eigentümer der Gaststätte gewesen. Wahrscheinlicher ist, dass Knebel bei einer seiner Reisen im Schwarzen Adler gewohnt und diesen seinem Freund weiterempfohlen hat. Goethe alias Jean Philipp Moeller wollte nun nichts riskieren. Nach dem früheren Gast aus Weimar zu fragen, hätte womöglich Argwohn erregt.

Es sind Schludrigkeiten wie diese, die einen Schatten auf Schiebolds ehrenwerten Ansatz werfen. So groß die Begeisterung für eine Sache auch sein mag: Sie ersetzt nicht die Sorgfalt, die der Leser erwarten darf.

Kurt H. Schiebold: Goethes Trip nach München, Volk-Verlag, 128 Seiten mit Illustrationen, 16 Euro.

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