Der Chorleiter Jens Junker kann mit Menschenmengen umgehen. Ein paar Tausend Besucher des Tollwood-Festivals brachte er im Sommer dazu, „Give Peace A Chance“ zu singen, und mit den Fußball-Sehern beim großen EM-Fan-Fest im Olympiapark stimmte er „Nothing Else Matters“ an. Mehrstimmig!
Aber gerade hat es der Gründer des Go Sing Choir mit einer Masse zu tun, die er nicht mehr bändigen, geschweige denn dirigieren kann: den Spöttern auf den Social-Media-Kanälen. Ein zwei Jahre altes Video, in dem der Spontan-Mitmach-Chor den Pop-Song „Like A Prayer“ von Madonna singt, geht gerade viral. Ein Shitstorm – „und zwar Big Time“, wie Junker stöhnend sagt.
Millionenfach wurden Ausschnitte ihres ursprünglichen Youtube-Videos von verschiedenen Influencern auf Tiktok und Instagram geklickt, weiterverarbeitet, verhöhnt, kommentiert und wieder versandt. Junker kann es nicht fassen: „Man diffamiert uns als naiven Make-America-Great-Again-Kirchenchor, der die wahre Bedeutung des Songs nicht versteht.“ Die ganze Geschichte ist ein Lehrstück für den grassierenden Internet-Irrsinn.
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Am Mittwoch vor einer Woche war die Welt noch in Ordnung. Junker wachte auf im guten Gefühl, bald mit dem vor sieben Jahren gegründeten Go Sing Choir auf eine erste kleine Tour zu gehen. Beim „Christmas-Special“ will er John Lennons „Happy X-Mas (War Is Over“) nicht nur am Stammsitz, dem Münchner Strom-Club, mit Hunderten Teilnehmern einstudieren, sondern auch in Köln, Regensburg und Nürnberg. Etwas mehr Bekanntheit an den neuen Orten könnte nicht schaden.
Aber was er dann entdeckte, war entschieden zu viel der Aufmerksamkeit. Im GSC-Youtube-Kanal fand er ein paar Nachrichten zu dem Video, das sie am 17. Dezember 2022 im Foyer der Münchner Isarphilharmonie aufgenommen hatten. Auf Englisch stand da etwa: „Wissen die wirklich, worum es in dem Song geht?“

Ja, Junker weiß es, und wahrscheinlich hat er wie üblich am Singalong-Abend ein paar Scherze darüber gemacht. Er kann sich noch gut erinnern, dass „Like A Prayer“ 1989 einen Skandal auslöste. Die katholisch erzogene Madonna singt davon, dass man Jesus so lieben kann wie einen Menschen; im Video in einer Kirche spielt sie mit christlichen und sexuellen Symbolen. Und auch wenn sie selbst es so nie öffentlich bestätigt hat, lassen Zeilen wie „on my knees“ und „take you there“ den Schluss zu, dass Madonna auf Oralverkehr anspielt.
Viele Menschen im Internet sind sich dessen ganz sicher. Und sie sind sich auch sicher, oder behaupten es einfach mal, dass hier nun also ein MAGA-Kirchenchor dieses Lied sich aneignet: „Madonna really fooled the next Generation of Gen-Z-Christians“, stand wohl über dem Ursprung-Filmchen der scheinheiligen Empörungswelle, wie Junker recherchiert hat.
Vermutlich habe es der Mini-Influencer DailyVines eingestellt, und vermutlich bald wieder gelöscht, aber der Start dieses „Red Hat Anthem“ genannten Strangs zog innerhalb weniger Tage mehr als 1500 darauf reagierende Videos auf Tiktok nach sich; allein die Verhöhnung von Ethan Trace („Sind die so behütet oder einfach dumm?“) wurde zehn Millionen Mal geklickt.
Auf Instagram und Youtube kommen weitere Millionen Aufrufe dazu; möglicherweise befeuert durch den Blockbuster-Film „Deadpool & Wolverine“, in dem der Song vorkommt – fälschlicherweise wird der Go Sing Choir nun bisweilen als Urheber des Soundtracks genannt (woran man die beachtliche Qualität dieses an nur einem Abend einstudierten Stückes erkennen kann).

Immerhin, das Portal Distractify hat die Fakten geprüft, zeigt das Offensichtliche, dass es sich doch um einen weltlichen Pop-Chor handelt, bei der angeblichen Kirche um den Konzertsaal Isarphilharmonie, und dass auffallend viele der Sänger lustige Rentier-Geweihe trügen. Auch in den Kommentarspalten stehen Einwände. Was aber die Mehrzahl der Spötter – vor allem in den USA – nicht stört, Lach-Smileys zu setzen, zu lästern und zu teilen.
„Da wird blind vertraut, solange es der eigenen Message dient und man Munition gegen das andere Lager hat. Das ist unsere Gesellschaft in einer Nussschale“, sagt Junker.

Persönlich gekränkt fühlt sich der Chorleiter nicht. „Aber wie fühlen sich die Menschen, die da zu sehen sind und beleidigt werden“, fragt er sich. Er hofft, „dass alle es mit Humor nehmen“. Natürlich werde er reagieren und selbst ein kurzes aufklärendes Video posten, das gesellschaftliche Brücken schlagen soll – genauso wie das gemeinsame Singen. Auf Tour werde er es sich nicht nehmen lassen, auch „Like A Prayer“ anzustimmen, das beim Go Sing Choir jeder so interpretieren darf, wie er oder sie möchte: „Bei uns ist jeder willkommen, egal wo man herkommt, wen man wählt – oder ob man singen kann.“