Süddeutsche Zeitung

Stadt voller Widersprüche:Der Münchner schwankt zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex

Er sollte daraus jedoch kein Unbehagen ziehen.

Glosse von Stephan Handel

Es gibt so Sachen, die macht der Mensch, damit er sie nicht mehr machen muss. Klingt paradox, ist aber so: Wer prophylaktisch zum Zahnarzt geht, tut das in der Hoffnung, weniger oft zum Zahnarzt gehen zu müssen. Wer Golf spielt, übt seinen Sport, um beständig weniger Golf spielen zu müssen - das gleiche gilt für Läufer, Radfahrer und Schwimmer. Und, natürlich, die Masken: Vernünftige Menschen tragen sie, um sie irgendwann nicht mehr tragen zu müssen, während die, die sie nicht tragen, wahrscheinlich Schuld daran haben, dass alle anderen sie am Ende länger tragen müssen.

So widersprüchlich ist das Leben. Wer sich entscheidet, nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, weil ihn der tägliche Stau von Starnberg rein so nervt, der trägt dazu bei, dass die anderen Autofahrer schneller durchkommen, während er, der ökologisch und sozial Vorbildliche, nun jeden Morgen in der S-Bahn schwitzt, wenn sie überhaupt kommt.

Wer sich angewöhnt hat zu duschen, bevor er das Haus verlässt, riecht selber mindestens neutral, bestenfalls gut - und stellt dann fest, dass die anderen, die Nicht-Duscher, erhebliche Mengen an Stinkstoffen freisetzen, was sie aber selbst nicht merken. Aus Tierliebe auf den Verzehr von Fleisch zu verzichten - das führt in der Konsequenz dazu, dass sehr viel weniger Tiere zur Welt kommen, denn so ist es nun mal, dass sehr viele von ihnen, die meisten wahrscheinlich, nur aufgezogen werden, damit der Mensch sie später essen kann.

Was das alles mit München zu tun hat? Nun, der Münchner schwankt seit jeher zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex, zwischen Hybris und Depression, zwischen Selbstüberschätzung und Kleinmut. Er sollte daraus kein Unbehagen ziehen, denn im Vergleich zur Gutlaunigkeit der Kölner, zur Pingeligkeit der Hamburger, zur Selbstgewissheit der Berliner ist der Münchner auf seinem Sitzplatz zwischen Manie und Melancholie doch ganz sympathisch aufgehoben.

Michail Gorbatschow hat gesagt: "Die Bayern leben in einem Paradies, die Einzigen, die es nicht wissen, sind die Bayern." Dann wäre München also die Hauptstadt des Paradieses, aber ebenso die Kapitale des Paradoxen. Na ja - ob das so stimmen kann?

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Quelle:
SZ vom 13.08.2020/huy
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