U-Bahnhof Giselastraße:"Fast kathedral"

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Schön oder schön greißlich? Die nackten Betonwände am U-Bahnhof Giselastraße. (Foto: Robert Haas)

Im örtlichen Bezirksausschuss sitzen Brutalismus-Fans. Sie fordern, dass nach der Sanierung des U-Bahnhofs Giselastraße der Sicht-Beton-Look für ein Jahr bleibt. Die klamme MVG ist gar nicht abgeneigt

Von Stefan Mühleisen, Schwabing

Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Die einen finden zum Beispiel, eine nackte Betonwand sei hässlich, weil sie abweisend, brutal, irgendwie schamlos wirke. Ein Rohling von Wand, die es nicht für nötig hält, sich mit einer Verkleidung die Blöße zu bedecken. Die anderen sagen: Gerade das Derbe und Wuchtige des unverkleideten Betons vermittle etwas Ehrliches, Ungeschminktes, eine Art unverblümtes und dadurch erhebendes Wand-Erlebnis.

Zu den Beton-Fans darf die überwiegende Mehrheit des Bezirksausschusses Schwabing-Freimann gezählt werden. Denn ausführlich wurde im Gremium zuletzt die derzeit graue Beton-Optik des U-Bahnhofs "Giselastraße" gerühmt. "Die Atmosphäre strahlt aktuell etwas ganz Besonderes aus: Ruhe und Klarheit", heißt es in einem Antrag der örtlichen SPD, der die Überschrift "Gesamtkunstwerk U-Bahn Giselastraße für ein Jahr erhalten" trägt.

Das Kunstwerk haben Mitarbeiter der Münchner Verkehrsbetriebe (MVG) geschaffen, indem sie im Zuge der Gleisarbeiten auf der U3/U6-Strecke die Wand- und Deckenverkleidung abnahmen und diese, sowie das ebenfalls Jahrzehnte alte Mauerwerk, sanierten. Ähnliche Sichtbeton-Pracht dürfen Fahrgäste derzeit am Hauptbahnhof und am Sendlinger-Tor-Platz genießen (oder erdulden, je nach Geschmack). Zu den Genießern gehört jedenfalls die Schwabinger SPD. Die Antragsautoren Petra Piloty und Lars Mentrup, der auch im Stadtrat sitzt, würdigen in ihrem Papier die "eigenwillige Schönheit" der U-Bahnstation. Der Halt, er wirke jetzt deutlich größer, "fast kathedral", heißt es. "Das Trägergestänge, das auf dem Beton ebenfalls Spuren hinterlassen hat, und die Leuchtstoffröhren bilden mit dem Beton zusammen eine wunderbar geometrische, regelmäßige wirkende Einheit."

Die Idee dabei, welche bei der Abstimmung mit nur zwei Gegenstimmen durchging: Das "Gesamtkunstwerk" soll bestehen bleiben, mindestens für ein Jahr. Das Kalkül dahinter: Sollte die MVG das ästhetische Empfinden teilen, würde man sich durch die weggelassenen Verkleidungen viel Geld sparen - und könnte es zum Beispiel für eine künstlerische Bespielung der Betonwände nutzen. Zudem solle auf die Werbetafeln an den Wänden verzichtet werden, da die verlorenen Einnahmen durch die Einsparung ausgeglichen würden. Allein Ute Primavesi (CSU) meldete Zweifel an, ob sich denn so viele Bürger für die Beton-Architektursprache des Brutalismus und den Geschmack der Siebzigerjahre erwärmen könnten. Ihr Antrag, einen Wettbewerb mit Akademiestudenten zur künftigen Gestaltung des U-Bahnhofs abzuhalten, wurde jedoch vertagt. Denn erst einmal, so will es die Mehrheit im BA, solle die MVG ein Signal geben, ob sie das überhaupt wolle, dann könne ein nächster (Antrags-)Schritt folgen.

Es zeigt sich: Die dem Beton-Look Zugeneigten in BA und Bevölkerung können sich da durchaus Hoffnung machen. "Es sieht so aus, als ob sich da zwei Ideen treffen", formuliert es MVG-Sprecher Matthias Korte. Wobei er einräumt, dass dies nicht primär aus ästhetischen Erwägungen erfolgt, sondern vor allem dem coronabedingten Budgetschwund geschuldet ist. Die Fahrgastzahlen in Münchens U-Bahnen sind drastisch eingebrochen, was sich wohl auf einen Verlust in zweistelliger Millionenhöhe für 2020 summieren wird. Heißt: Es müssen dringend Kosten gespart werden - was zunächst eine Teilabsage an das Lokalgremium zur Folge hat: Auf die Einnahmen aus den Werbetafeln in den U-Bahnhöfen werde man keinesfalls verzichten können, betont Korte. Auf die Wandverkleidung aber womöglich schon.

Denn angesichts der miesen Etatlage soll anders als bisher bei Sanierungsprojekten generell nicht mehr jeder U-Bahnhof (teuer) individuell in Form gebracht werden, sondern bald ein (günstigeres) "standardisiertes Gestaltungskonzept" zur Anwendung kommen, zumal in den nächsten Jahren eine ganze Reihe U-Bahnhof-Sanierungen anstehen. "Ein Ansatzpunkt ist dabei auch, auf Decken- und Wandverkleidungen zu verzichten, auch am Bahnsteig", sagt Korte. Was nicht bedeute, ganz auf Designelemente zu verzichten. Korte nennt etwa den Halt "Westfriedhof", wo die felsartig anmutende Tunnelröhre mit einem ausgefeilten Lichtkonzept ausgeleuchtet wird. "Schlichte Wände, die trotzdem was hermachen und Aufenthaltsqualität bieten." Das neue Standardkonzept ist noch in Arbeit und soll zunächst der Stadtgestaltungskommission vorgestellt werden. Der U-Bahnhof "Giselastraße" wäre, sollte das Konzept politisch auf breites Wohlgefallen stoßen, dann der erste "Anwendungsfall", wie Korte bestätigt.

© SZ vom 27.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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