Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Meter für Meter:Eine schwierige Adresse

Die Schwarzenbergstraße ist gerade mal 350 Meter lang - und doch steht dort ein Gebäude, das im ganzen Land bekannt ist: die JVA Stadelheim. Und daneben? Der Frauenknast. Plus ein paar gemütliche Nachbarn.

Von Julian Hans

Straßen sind die Lebensadern der Stadt. Viele sind bekannt, manche sind berühmt, andere erzählen einfach nur gute Geschichten. Ein Streifzug durch München.

Als Absender für eine Bewerbung ist die Schwarzenbergstraße keine günstige Adresse. Zumindest dürfte der Empfänger eine Augenbraue heben, wenn er sie liest. Denn die Menschen, die in dieser Straße leben, teilen sich in zwei Gruppen: Die einen sind freiwillig da, die anderen nicht. Für Letztere ist der Aufenthalt an dieser Adresse buchstäblich eine Strafe, und sie zählen die Tage, bis sie wieder weg können.

Am einen Ende des gerade einmal 350 Meter langen Bogens in Obergiesing steht das Münchner Frauengefängnis, am anderen die Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Dominiert wird das Straßenbild vom Rostrot des 2009 fertiggestellten Gebäudes für die Frauen. Immerhin wirkt es etwas lebendiger als die grauen Mauern, hinter denen die Männer sitzen. Würde man davor noch ein paar Olivenbäume und ein paar Lavendelbüsche pflanzen - im Zusammenspiel mit dem rötlichen Ockerton könnte eine geradezu mediterrane Atmosphäre entstehen.

Aber das geht leider nicht: Bepflanzungen sind an einer Gefängnisfassade nicht erlaubt. Ausbrecherinnen könnten sich hinter den Büschen verstecken, Komplizen auf Bäume klettern, um Kontakt zu den Insassen aufzunehmen. Vor sechs Jahren wurde in einer Bürgerversammlung der Wunsch vorgetragen, die Flächen wenigstens für Street-Art-Künstler zur Bemalung freizugeben, aber selbst diesen Vorschlag hat die Gefängnisleitung mit Verweis auf die Sicherheit abgelehnt: Glatt und einheitlich sollen die Gefängnismauern sein. Und die Hecken auf dem schmalen Grünstreifen davor werden stets in strenger Quaderform gestutzt und dürfen nicht höher als Kniehöhe wachsen.

Sicherheit ist natürlich ein Thema in so einer Straße, das man kaum ausblenden kann. Zuletzt ist 1996 ein Häftling aus Stadelheim getürmt. Seitdem wurde ordentlich aufgerüstet. Wie die Lastkräne an einem Containerhafen ragen Sensoren unterschiedlicher Form, Größe und Frequenz vom Dach des Frauengefängnisses. An allen Ecken des Gebäudes sind schwenkbare Scheinwerfer montiert, die im Alarmfall die Fassade und den Weg davor ausleuchten können. "Dieser Bereich wird videoüberwacht", warnt ein Schild auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wie zum Hohn hat ein Löwen-Fan einen Aufkleber der "Panzerknacker 1860" drüber geklebt; ein Musterbeispiel für die Beobachtung des Soziologen Erving Goffman, dass selbst unter den Bedingungen der totalen Überwachung sich der Drang nach Individualität Bahn bricht und Widerstand in kleinsten Gesten geäußert wird.

Drinnen gibt es Haftplätze für 160 Frauen und noch einmal 60 weitere Plätze im Jugendarrest. Der Tag ist streng geregelt: Sieben Uhr Frühstück, elf Uhr Mittagessen, 16.30 Uhr Abendessen. Eine Stunde Hofgang am Tag. Junge Mütter können hier mit ihren Kindern leben, für sie gibt es auch einen Spielplatz. Um 22 Uhr werden die Zellen geschlossen.

Nein, dies ist kein Ort, an dem Besucher spontan ausrufen: "Hier lässt es sich leben!" Eher einer, von dem die Stadtwerke sagen: Da können wir gut ein Umspannwerk und ein paar Glascontainer hinstellen. Aber an einem lauen Abend im Juli beweisen die Nachbarn des Umspannwerks, dass man es sich überall gemütlich machen kann, wenn man ein paar Klappstühle in den Garten stellt und eine Flasche Wein auf den Tisch.

Etwa ein Dutzend Gefangenentransporte rollen jeden Tag durch die Schwarzenbergstraße. Wenn sich das graue Metalltor öffnet, kann man einen kurzen Blick hinter die Mauern werfen. Die meisten Frauen sind wegen Drogendelikten, Diebstahls oder Betrugs hier. Mörderinnen sind die Ausnahme. Während des NSU-Prozesses saß auch die Rechtsterroristin Beate Zschäpe hier in Untersuchungshaft. Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen, das gilt in der Schwarzenbergstraße ganz besonders.

Vom Fenstersims ihrer Erdgeschosswohnung aus beobachtet Herta Pape, was sich so tut im Hof. Sehr viel tut sich nicht. Der Nachbar führt seinen Husky aus, drei Mädchen unterziehen die Nestschaukel im Vorgarten einem Belastungstest, bis ein Regenschauer sie unterbricht. Frau Pape hat weißes Haar und ein freundliches Gesicht. 57 war sie, als sie in den vierstöckigen Bau gezogen ist. Das ist jetzt 30 Jahre her. Ihr Mann war Offizier, wie die meisten ihrer Nachbarn auch. Die US Army hatte das Quartier an die Bundeswehr abgetreten. Nach der Wende gab auch der Bund den Standort auf und die Wohnungen wurden verkauft. Viele Bewohner griffen zu, und so kommt es, dass die Nachbarn hier immer noch auf die eine oder andere Weise einen Bezug zum Militär haben. Das verträgt sich mit dem Justizvollzug ganz gut.

Als Ende des 19. Jahrhunderts das neue Münchner Zentralgefängnis auf dem ehemaligen Gut Stadelheim in Giesing seinen Betrieb aufnimmt, bekommt die angrenzende Straße den Namen eines Rechtsgelehrten aus dem Mittelalter: Johann Freiherr von Schwarzenberg war Hofmeister des Fürstbischofs von Bamberg und verfasste in dessen Auftrag die sogenannte Bamberger Halsgerichtsordnung. Dabei nahm er sich das Römische Recht und die humanistische Tradition der italienischen Rechtsschulen zum Vorbild. Bei allem Humanismus kam man im Mittelalter allerdings noch nicht ohne körperliche Züchtigungen und Todesstrafe aus. Die "Bambergensis" wiederum diente als Grundlage für die 1532 verabschiedete Constitutio Criminalis Carolina Karls V., das erste allgemeine deutsche Strafgesetzbuch.

Der niederländische Rechtsphilosoph Hugo Grotius war ein knappes Jahrhundert nach Schwarzenberg ein früher Anhänger der Aufklärung. Der Grotiusweg, der von der Schwarzenbergstraße abgeht und entlang der Mauer zur JVA Stadelheim verläuft, war früher als "Telefonzelle" nach drinnen bekannt. Da standen dann die Angehörigen und schrien über die Mauer. Einigen Nachbarn seien die gebrüllten Liebesschwüre und Kassiber in allen Sprachen der Welt ziemlich auf den Geist gegangen, sagt Pape. Sie habe das nicht gestört. Aber nachdem sich die Anwohner vor einigen Jahren zusammen bei der Anstaltsleitung beschwert haben, ist es ruhiger geworden.

Einmal sei sie bei den Nachbarn zu Besuch gewesen, erinnert sich Herta Pape. Das ist viele Jahre her. Ein Ausflug ins Gefängnis, organisiert vom Bundeswehrverband. "Ich war überrascht, wie klein die Zellen sind", sagt sie. "Da musste man aufs Bett klettern, um aus dem Fenster sehen zu können." Fast täten ihr die Insassen leid, aber nur fast. Sie werden ja schon was ausgefressen haben, wenn sie da drin sind.

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Quelle:
SZ vom 30.07.2020/vewo
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