Wenn es um das grüne München geht, dann denkt man an Politik und vielleicht den Englischen Garten. Ansonsten gibt es in München sehr viel Grau, ist es doch die am stärksten versiegelte deutsche Großstadt. Weswegen jede Pflanze, jede Form von Natur hier zur positiven Überraschung wird. Wenn man Grau dagegen liebt, könnte man die plötzlich auftretende Natur aber auch als disruptiv, als störend empfinden. Und es scheint Leute zu geben, die auf diese Art veranlagt sind. „Disruptive Nature“, so heißt auch eine Serie des aus Argentinien stammenden Street-Art-Künstlers Francisco Bosoletti, dessen neustes Mural, also Wandbild, in den jüngsten Tagen in Giesing entstanden ist. An einer Wand des Ärztehauses am Candidplatz, das in den nächsten Jahren abgerissen wird.
Also möglicherweise. Denn das von Ehret+Klein und Values real Estate geplante, 64 Meter hohe Haus, das drei von neun Ärzte- und Bürogebäuden aus den Achtzigerjahren ersetzen soll, stieß in Untergiesing von Anfang an auf Widerstand. Weil man durch diese „Aufwertung“ eine Erhöhung der Mieten im Viertel befürchtet. Oder weil es heißt, dass es dort eher Wohnungen, Kitas oder ein Kulturzentrum brauche.
Vielleicht als einen Kompromiss in diese Richtung könnte man verstehen, dass es im Haus mit der Nummer 9 seit einem Jahr das „Candy“ gibt. Eine Zwischennutzung, zu der Co-Working-Räume, eine Bar, Workshops und Events gehören, wie ein Kunstmarkt, ein Sommerfest, eine Licht-Graffiti-Show oder ein monatlicher Künstler-Stammtisch.
Kuratorisch verantwortlich dafür sind im Wesentlichen Marco Eisenack vom Mucbook-Clubhaus und Heiko Zimmermann von der Street-Art-Galerie Art Avenue. Beide haben im sonst größtenteils von Ärzten belegten Haus auch drei Giesinger Künstlerinnen untergebracht. Und finanziell unterstützt von der Meistro-Stiftung des gleichnamigen Energie-Unternehmens aus Ingolstadt haben sie nun Francisco Bosoletti nach München geholt. Der 36-Jährige hat sich in den vergangenen Jahren in der Street-Art-Szene einen Namen gemacht. Das Magazin Cicero schrieb 2019, Bosoletti könnte „der nächste Banksy“ werden. Ein Vergleich, den Bosoletti selbst aber absurd findet. Schon weil Banksy eine ganz „andere Bildsprache“ habe, wie er an einem völlig verregneten und daher arbeitsfreien Montag im „Candy“ erzählt.
Außerdem sei Banksy, so seine keineswegs absurd klingende Theorie, doch eh kein einzelner Künstler. Sondern ein Trupp „von vielleicht 50 Leuten“, die sich entschieden hätten, den Kunstmarkt zu foppen. Und das gedeckt von der britischen Nation, die jetzt sagen könne: Wir haben den berühmtesten Künstler der Welt! Bosoletti erzählt das alles mit einem Lachen. Und im gemeinsamen Gespräch mit Marco Eisenack und Heiko Zimmermann stellt sich heraus: Der Künstler kennt sich nicht nur mit Banksy, sondern auch der Kunstgeschichte sehr gut aus. Speziell mit der Italiens, wo Bosoletti seit 2016 lebt. Er spricht vom Licht bei Caravaggio, Giorgio Vasaris Einfluss auf den Kunstkanon. Oder dass, wenn etwas in der Street-Art innovativ wirke, das in der Geschichte meist schon da war.
Was auch schon immer da war, das ist die Natur. Und Bosoletti beschreibt seine erwähnte „Disruptive Nature“-Serie unter anderem so, dass er verschwundene Landschaften zurück in den urbanen Raum hole. Dort, wo man sie nicht erwartet, wie im Ärztehaus-Innenhof. Da gibt es nun eine gesprühte, große Blüte an der Wand. Mit der Besonderheit, dass Bosoletti, der seine erste Solo-Schau 2016 in der Art-Avenue-Galerie hatte, sie schwarz-weiß und inversiv, quasi als Negativ dargestellt hat. So als würde man auf den Negativ-Streifen eines Films blicken. Wer das Motiv „richtig“ sehen will, muss es fotografieren und es dann mit einer Software oder App in ein Negativ beziehungsweise Positiv verwandeln.
Bosoletti kam auf diese Technik vor acht Jahren. Da besprühte er in Neapel den Eingang eines Obdachlosenheimes, eines Ortes, wie er sagt, den man gerne übersieht. „Was wir sehen, ist nie die Realität, sondern nur unser Standpunkt“, so der Künstler. Die andere Wahrnehmung von Tieren, die Radiografie, diese nennt Bosoletti ebenfalls als Vergleich. So als würde man die „Rückseite“ eines Gemäldes sehen. Was sein eigenes Bild betrifft, das könnte, erzählt Heiko Zimmermann, auch bei einem Abriss erhalten bleiben. Denn die Gebäude sind nicht aus Beton, sondern Glas und Metall. Und so könne man das Bild herauslösen. Auch ein paar andere „Candy“-Formate sollen bleiben. So hätten es die Immobilien-Entwickler versprochen. Wobei ja immer noch unklar ist, was kommt.