München:Geschichten aus dem Koffer

Seit 30 Jahren ist Linde Scheringer Puppenspielerin. Der Schauraum am Ackermannbogen zeigt ihre Stoff- und Papierwesen

Von Ellen Draxel

Was man mit Puppen so alles machen kann. Sie verträumt dreinblicken lassen. Sie zum Nase rümpfen animieren und damit als neugierig und aufmüpfig skizzieren. Dafür sorgen, dass sie sich mit übergroßen Händen an der Stirn kratzen, weil sie nachdenklich erscheinen sollen. Oder traurig, indem sie verzweifelt auf und ab gehen. Linde Scheringers Figuren leben, sie sind mit so ausdrucksstarker Mimik gezeichnet und mit so virtuoser Gestik gespielt, dass der Zuschauer schon beim ersten Satz, den die Puppenspielerin ihren Kreationen einhaucht, den gebastelten Stoff- oder Papierwesen auf der Bühne verfällt.

Linde, oder eigentlich Gerlinde Scheringer, wie die Künstlerin mit vollem Namen heißt, ist Figurenspielerin durch und durch. Sie schlüpft in die Rolle ihrer Puppen, sobald sie diese in die Hand nimmt. Ihre Stimme verändert dann ihren Klang, wird tiefer oder höher, mal krächzend, mal klar, auf jeden Fall aber sehr emotionsgeladen. Auf den ersten Blick bedrohlich wirkende Erscheinungen können so ein sanftes Gemüt offenbaren, das keiner sich zu fürchten braucht. Scheringer schreibt die Geschichten selbst, die sie seit 30 Jahren spielt. Sie fertigt ihre Charaktere in stundenlanger Kleinarbeit aus Stoff, Pappmasché oder Schaumstoff, macht sie unverwechselbar mit liebevollen Details und oft überzeichneten optischen Merkmalen. Professor Mascarpone Mozzarella etwa hat eine breite Glatze und eine große, runde Brille. Die Mäuse Pippilotti Naseweis und Max Mucks kennzeichnen ihre langen Nasen, andere Figuren verfügen über große Augen und breite Münder.

"In meinen Geschichten geht es immer um Gerechtigkeit, um Toleranz, Achtsamkeit, um ein friedliches Miteinander", erklärt die Mutter dreier Töchter. Linde Scheringer spielt ohne moralischen Zeigefinger, aber mit der Absicht, ihrem Publikum, und das sind vor allem Kinder, "Mut zu machen, Freude am Leben zu vermitteln, es zur Selbständigkeit anzuregen".

Scheringer kann gut mit ihren jungen Zuschauern. Als das mittlere von fünf Kindern wuchs sie in Kösching bei Ingolstadt auf einem Einsiedlerhof auf, die Geschwister spielten damals im Wald mit Stöcken und Matsch. "Unser Lieblingsspiel war die Schokoladenwerkstatt: Die Fahr-Rinnen des Traktors symbolisierten für uns Schokoriegel, es war ein bisschen wie bei den Kindern von Bullerbü", erinnert sich die heute 60-Jährige schmunzelnd. Hinzu kam, dass Linde Scheringers Omas den Enkeln immer die tollsten Geschichten erzählten - wahre, die sie selbst erlebt hatten. In dieser Zeit, davon ist die Künstlerin überzeugt, wurde ihre Fantasie geboren. Ihre Fähigkeit, mit dem Herzen zu kreieren, ihr Denken nicht in starre Schablonen zu pressen, sondern zuzulassen, dass es sich frei entfaltet. Schon damals liebte das kleine Mädchen das Spiel mit Puppen, inszenierte Kasperle im Dschungel oder Kasperle im Kampf gegen Ungeheuer. Einen Dämpfer allerdings erlitt Lindes kindliches Gemüt, als sie in die Klosterschule kam. Dort herrschte Drill, es regierten Angst und Schläge. Als Scheringer später eine Ausbildung zur Erzieherin absolvierte, wusste sie, welcher Pädagogik sie den Vorzug geben wollte. Es folgten Jahre des poetischen Clownstheaters, Ausbildungen zur Schauspielerin und zur Figurenspielerin, Freundschaften mit Künstlergrößen wie Günter Grünwald oder Konstantin Wecker, ein langer Auslandsaufenthalt in Südamerika. Das Leben in WGs und mit ihrer eigenen, fünfköpfigen Familie. Und immer wieder Bekanntschaften mit anderen Puppenspielern, deren Spielvarianten Impulse für neue Kreationen lieferten. "Alles Etappen auf dem Weg zu meinem eigenen Theater."

15 Stücke hat Linde Scheringer mittlerweile im Repertoire, mit denen sie in ganz Bayern und auch mal im Ausland unterwegs ist. Geschichten wie "Krach im Dach von Witwe Grantel", das sie seit 20 Jahren in Kindergärten, bei Stadtteilwochen oder in Stadtteilbibliotheken zeigt, und das mit jeder Menge Situationskomik viel lehrt übers Teilen, Helfen und Tolerieren. Oder die Weihnachtsgeschichte "Ein Daumen voll Glück", bei der Kinder, die sonst nie den Mund aufmachen, voller Inbrunst das Lied "Ich geh' mit meiner Laterne" schmettern. Fast therapeutische Wirkung entfaltet bei dem einen oder anderen auch die Inszenierung "Geschwinde Oma Linde". Die Puppenspielerin verkörpert darin eine alte Frau, deren bester Freund Willi "weggeflogen" ist, und für den sie jeden Tag um fünf Uhr den "Brotzeitgedächtniswecker" stellt. Einmal, erzählt Scheringer, sei bei dem Stück ein kleiner Junge aufgesprungen und habe ihr entgegengerufen: "Du brauchst nicht traurig zu sein, Oma Linde. Der Willi sitzt auf einer Wolke und schaut dir zu." Später erfuhr sie, dass dieser Junge, dessen Vater gestorben war, vor Kummer ein Jahr lang kein einziges Wort mehr gesprochen hatte.

"Wenn die Kinder so dabei sind, dann ist das wie ein Geschenk für mich", sagt die Wahlmünchnerin, die seit zehn Jahren in der Siedlung am Ackermannbogen wohnt. Ihre Produktionen, Mischungen aus Schauspiel und Figurentheater ohne Schwarz-Weiß-Malerei in Gut und Böse, sondern mit authentischen Charakteren, leben von der Mitwirkung der Zuschauer. "Zu viel Text", weiß die Pädagogin, "interessiert Kinder nicht. Man muss auf sie eingehen."

Angefangen hat Linde Scheringer mit großen Puppen, inzwischen werden die Figuren immer kleiner. "Ich kann die schweren Koffer nicht mehr schleppen, das ist einer der Hauptgründe." Die Bühne ihres neuen Stücks "Die Zündholzkinder", eines poetischen Märchens im Geiste Hans Christian Andersens, hat die Größe einer Holzkiste im DIN-A 4-Format. Nach und nach offenbart die überdimensionierte Zündholzschachtel ihre Schätze, klappt sich auf, verwandelt sich in eine Straßenecke mit Laterne am Haus und Wäscheleine auf dem Dach.

Ob die Künstlerin diese Geschichte oder eine andere bei ihrer Ausstellung "Einen Traumwurf von der Kindheit entfernt" zeigen wird, die von Sonntag, 25. Juni, bis Freitag, 2. Juli, im Schauraum am Ackermannbogen zu sehen ist, darf das Publikum entscheiden. Zu erleben sind die Aufführungen an der Therese-Studer-Straße 9 am 28. und 30. Juni sowie am 1. Juli jeweils um 14.30 Uhr, außerdem am Donnerstag, 29. Juni, um 18 Uhr.

Für kommenden Herbst plant Linde Scheringer zudem eine Erzählwerkstatt im Neubauquartier: Kinder dürfen ihre Wünsche und Träume auf Papier malen und sie dann in einem Schaukasten als Geschichte präsentieren. Ein Projekt, das die Künstlerin in Zusammenarbeit mit der Freimanner Mohr-Villa bereits seit zwei Jahren erfolgreich mit Flüchtlingskindern aus der Bayernkaserne realisiert.

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