Süddeutsche Zeitung

Gertraud Burkert wird 80:Das soziale Gewissen der Stadt

Für die Sorgen und Nöte der Menschen hat die frühere Bürgermeisterin Gertraud Burkert (SPD) immer noch ein offenes Ohr. Und sie mahnt, die Interessen aller im Blick zu behalten.

Von Sven Loerzer

Rot. Eine Frau ganz in Rot, so steht sie am Eingang des Alten Rathaussaals, schüttelt Hände von den vielen, die ihr gratulieren. 700 Gäste sind der Einladung zum Geburtstagsfest gefolgt, dem die Gefeierte, die in der Öffentlichkeit gern im roten Kostüm auftritt, eigentlich entgehen wollte. Das ist fast 15 Jahre her. Wenn Gertraud Burkert, von 1993 bis 2005 Zweite Bürgermeisterin der Landeshauptstadt nun am Samstag 80 Jahre alt wird, dann wird es ein ruhiger Tag.

Ihren drei Kindern und sechs Enkeln hat sie klargemacht, angesichts der Corona-Krise besser fern zu bleiben und ihr allenfalls einen Kuchen vor die Tür zu stellen. Vielleicht wird das Wetter dazu taugen, um ein wenig in den Garten ihres Reihenhauses in Ramersdorf zu gehen. Das Geburtstagsessen, das die Stadt Ehrenbürgern wie Gertraud Burkert ausrichtet, ist abgesagt, ebenso wie die Feier, zu der Burkert Familie, Freunde und Weggefährten in die Perlacher Forschungsbrauerei einladen wollte.

Rot ist noch immer ihre Farbe, "das ist die Farbe, die auffordert, etwas zu tun", eine Farbe, mit der sie sich als Vertreterin der Stadtspitze gerne zeigte. Heute ist das anders: "Wenn ich jetzt als Bürgerin zu Veranstaltungen gehe, will ich mich zurücknehmen." Vor mehr als 50 Jahren, 1969, ist sie in die SPD eingetreten. Sie hatte zuvor entschieden gegen die Notstandsgesetze demonstriert. Der SPD hat sie sich angeschlossen, weil damals der Bundestagsabgeordnete für den Münchner Osten - "er hieß auch noch Marx" - dagegen gestimmt hatte. Ihm schrieb sie, "das finde ich toll". Und er antwortete, sie solle nicht Briefe schreiben, sondern in der Partei mitarbeiten. Natürlich kam auch die Begeisterung für Willy Brandt dazu, sein Einsatz für Frieden, aber auch für mehr Frauenrechte: "Wir wollten die Welt verändern."

Die aktuelle Politik hat die frühere Sozial-, Schul- und Sportbürgermeisterin noch immer fest im Blick, auch wenn sie sich mit Äußerungen zurückhält. "Hahnenkämpfe zwischen Vorgängern und Nachfolgern liegen mir nicht." Natürlich hat sie sich die Wahlergebnisse für München genauestens angeschaut. Fast 50 Prozent für OB Dieter Reiter, und das trotz der vielen Gegenkandidaten, das sei schon anerkennenswert. Und immerhin habe Rot-Grün mit der Rosa Liste eine Mehrheit, tröstet sie sich, leidet aber unter dem Niedergang des Wählerzuspruchs für die Roten: "Ich sehe eine große Gefahr für den sozialen Zustand in Europa, wenn die Sozialdemokratie in fast allen europäischen Ländern immer schwächer wird. Wir entwickeln uns dann in eine Richtung, die einem Großteil der Menschen nicht guttut. Oben bleibt, wer Erfolg hat, aber die anderen? Das halte ich für bedenklich."

In den 60er und 70er Jahren habe es viele Menschen gegeben, die gesagt hätten, ich wähle die Partei, von der ich denke, sie ist für die gesamte Gesellschaft die beste. Viele gut verdienende Akademiker seien damals wegen der Friedens- und Sozialpolitik in die SPD eingetreten. "Wenn ich mich jetzt umschaue, dann sagen die Leute, die oder jene Partei wähle ich, das ist für mich das beste." Immer mehr gehe es vielen Menschen nur um Einzelinteressen. Das zeige sich beim Wohnungsbau, wo es immer öfter heißt, "mehr Wohnungen ja, aber nicht bei mir".

Von der einstigen Aufbruchsstimmung ist wenig übrig geblieben

Früher war das anders. Vielleicht, sagt Burkert, verkläre man mit 80 Jahren die Vergangenheit. Aber sie habe schon den Eindruck, dass es damals, als sie in die Partei eingetreten sei, solidarisches Denken gegeben hat, den breiten Konsens, "wir verändern die Gesellschaft zum Wohle aller". Von der einstigen Aufbruchstimmung ist wenig übrig geblieben. Für den einzelnen Menschen gebe es durchaus persönliche Hilfsbereitschaft, "ich helfe zwar gern meinem Nachbar, aber deshalb eine Partei zu wählen, die mir etwas beschneidet, um Menschen zu helfen, die ich nicht persönlich kenne, das ist etwas ganz anderes". Politik jedoch müsse die Interessen möglichst aller im Blick behalten.

Geboren wurde Gertraud Burkert in München als Tochter einer Arbeiterfamilie 1940, in schwierigster Zeit: Als ihre Mutter schwanger war, bekam der Vater den Einberufungsbefehl. Nach dem Abitur am städtischen Elsa-Brändström-Gymnasium in Pasing studierte Gertraud Burkert Germanistik, Altphilologie und Geschichte. Sie promovierte, trat aber das Referendariat nicht an, weil sie sich um Haus und Kinder kümmerte, einen Kindergartenplatz konnte sie nicht finden. Probleme, wie sie Männer gar nicht kannten, "weil ihre Frauen ihnen die Probleme vom Hals gehalten haben". Anderen Menschen zuzuhören, ihre Sorgen und Nöte ernst zu nehmen, das hat sie als Mitglied des Bezirksausschusses Ramersdorf-Perlach gelernt, dem sie 20 Jahre angehörte.

Dass sie dann 1990 unter dem damaligen OB Georg Kronawitter den Platz 2 auf der Stadtratsliste bekam, war für sie selbst überraschend. Für so manche altgediente SPD-Stadträte eine Zumutung, findet sie heute, zumal sie gleich Vizefraktionschefin und Sprecherin im Schulausschuss wurde. Kronawitter hatte sie bereits als Bürgermeisterin im Auge, obwohl er sie einst, als in der Münchner SPD der Streit zwischen Rechts und Links tobte, in die Reihe der "fanatisch-dogmatischen Linken" einordnete, die er von jedem Amt fernhalten wollte. Seinen Sinneswandel erklärte er ihr damit: "Du hast mir immer wieder widersprochen, und zwar qualifiziert. Aber Recht habe immer ich gehabt."

Die SPD hatte die Besetzung der Stadtratsliste nach dem Reißverschlussprinzip abwechselnd mit einem Mann und einer Frau eingeführt. Kronawitter stand an der Spitze und suchte eine Frau für den zweiten Platz. Eine promovierte Bürgermeisterin in Konkurrenz zu den Grünen, das erschien ihm durchaus sinnvoll. Als Gegenentwurf zu Sabine Csampai, der jungen Wilden, eine Frau, 50 Jahre alt und mit Erfahrung, jemand, der auf Leute zugehen kann. Zudem war Burkert, damals stellvertretende SPD-Unterbezirksvorsitzende, von den Linken akzeptiert und von den Rechten zumindest als solide Arbeiterin anerkannt.

Als sie 1993 zur Stadtschulrätin gewählt wurde, durfte sie nach Intervention der Regierung von Oberbayern das Amt nicht antreten, weil Staatsexamen und Referendarzeit fehlten. "Ohne die fürsorgliche Haltung" der Regierung, "niedere Tätigkeiten" von Gertraud Burkert fernzuhalten, wäre sie wahrscheinlich nicht kurz darauf Zweite Bürgermeisterin geworden, beschrieb der damalige OB Christian Ude ironisch die Folgen der Niederlage.

So aber wurde sie laut Ude das "soziale Gewissen" der Stadt. Ihre schwierigste Zeit erlebte sie, als München in den Neunzigerjahren sparen musste. Vor allem im Schulbereich mit vorgegebenen Klassenstärken und Unterrichtsstunden waren die Sparvorgaben nicht zu verwirklichen. Und vehement war Burkert dagegen, die Schulen dem Freistaat anzubieten, wie es andere Städte taten: "Wir müssen sie behalten, als Vorreiter im Schulwesen." Solche Auseinandersetzungen, sagt sie, "waren meistens ein bisschen unangenehm". Ihr Stil war ohnehin eher von der Suche nach dem Konsens geprägt.

Das konnte manchmal dauern, was ihr Kritiker mitunter als Unentschlossenheit auslegten. Ihre Durchsetzungskraft sollte man freilich nicht unterschätzen, erlebte Ude: "Sie hat eine erschreckende Beharrlichkeit und einen langen Atem." Die Profilierung der eigenen Person war ihr nie wichtig. Aber Erfahrungen in die Politik einzubringen, die Männer früher kaum machten: Was es bedeutet, keinen Kita-Platz zu haben, Kinder und Beruf zu vereinbaren oder sich um pflegebedürftige Angehörige zu kümmern.

Wichtigste Eigenschaft für das Amt sei, "zuhören und auch vermitteln zu können, überzeugen und nicht befehlen". Das hat ihr in der Verwaltung geholfen, wenn es um unterschiedliche Interessen ging, etwa beim Bau von Kindergärten. Und Ansehen bei den Bürgern eingebracht: Sie ist jemand, zu dem man einfach hingehen und sein Leid klagen kann.

Es ist wohl diese besondere Fähigkeit, keine Distanz, sondern Vertrauen im persönlichen Gespräch aufkommen zu lassen, die dazu führte, dass Burkert nicht nur die Herzen der Menschen, sondern auch die der Sozialszene zuflogen, obwohl ihre Ansprachen bisweilen eher etwas spröde wirkten. Auch 15 Jahre, nachdem sie aus gesundheitlichen Gründen ihr Amt aufgegeben hat, nutzt sie ihre Kenntnisse noch, "um da zu helfen, wo geholfen werden muss", sei es einem Nachbarn, der Probleme mit der Verwaltung hat, oder einer sozialen Einrichtung, die einen Zuschuss braucht.

Die wenigen Privilegien, die einer Ehrenbürgerin zustehen, nutzt sie nicht. "Eine schöne Leich", das Ehrenbegräbnis, "das will ich noch nicht so schnell", sagt sie. Den MVV-Freifahrtschein hat sie angenommen - und überweist den Ticketpreis als Spende an die "Brücke nach Kiew", eine Hilfsorganisation für Kinder, Familien und alte Menschen in der Partnerstadt.

Bürgermeisterin war sie gern, dennoch habe sie nicht getrauert, als die Zeit zu Ende war: "Man kommt sehr engagiert ins Amt, mit vielen Ideen, versucht sie umzusetzen - manches geht, manches nicht. Man versucht es immer wieder, aber irgendwann hat man nicht mehr den Schwung dazu. Um neue Ideen zu entwickeln, dafür bräuchte man mehr Zeit."

Dass sie ihr Geburtstagsfest absagen musste, macht sie keineswegs unglücklich. Die große Feier vor 15 Jahren hatte Ude durchgesetzt. An diesem Samstag wird ihr Mann ein Festessen für sie kochen, "natürlich mit ein bisserl viel Fleisch", vermutet sie, so wie es sonst die Enkel lieben, "weil weniger Gesundes drin ist, als wenn die Oma kocht. Schweinsbraten mit Kartoffelknödel kommt doch besser an als Gemüseeintopf." Damit kann sie gut leben, denn ihre Politik war es immer, die Interessen aller zu berücksichtigen.

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Quelle:
SZ vom 20.03.2020/lfr
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