Münchner Opfer der Nazis:Ermordete aus dem Vergessen zurückgeholt

Münchner Opfer der Nazis: Barbara Hutzelmann und Maximilian Strnad vom Stadtarchiv am Montag an Stele Nummer 46. Sie erinnert vor dem bayerischen Verkehrsministerium an der Franz-Josef-Straße 4 an fünf ermordete einstige Anwohner.

Barbara Hutzelmann und Maximilian Strnad vom Stadtarchiv am Montag an Stele Nummer 46. Sie erinnert vor dem bayerischen Verkehrsministerium an der Franz-Josef-Straße 4 an fünf ermordete einstige Anwohner.

(Foto: Stephan Rumpf)

Seit drei Jahren erinnert die Stadt mit Wandtafeln und Stelen an die Münchner Opfer der Nazis. Ein zentrales Mahnmal für die 12 000 Ermordeten lässt jedoch auf sich warten.

Von Jakob Wetzel

Am Ende ging es vermutlich schnell. Paul Hirsch ist Physiker gewesen, Schriftsteller und passionierter Geiger, er war viel auf Reisen. Doch 1941 verschleppten ihn die Nazis erst in eine Nervenheilanstalt bei Koblenz. Im Juni 1942 deportierten sie ihn von dort in das Vernichtungslager Sobibor. Die Fahrt dauerte vier Tage. Wohl gleich nach der Ankunft am 19. Juni, so die Recherchen des Münchner Stadtarchivs, haben SS-Leute Hirsch ermordet, er wurde 56 Jahre alt. So wie ihn brachten die Nazis zwei seiner drei Schwestern um, zwei Schwager, eine Nichte, einen Neffen.

Seit Dienstag erinnert die Stadt München jetzt an Paul Hirsch. An seinem Elternhaus an der Königinstraße 85 hat sie sogenannte Erinnerungszeichen angebracht, so heißt die Münchner Alternative zu den sogenannten Stolpersteinen des Künstlers Gunter Demnig. Am Haus hängen nun Wandtafeln, eine für Paul Hirsch, eine für seine Mutter Auguste, die 1939 in die Niederlande geflohen und dort 1942 gestorben ist.

Und die Hirschs sind dort nicht allein, denn das Jugendstilgebäude am Englischen Garten ist ein besonderes Haus. Genau hier hat die Stadt am 26. Juli 2018 die ersten solchen Erinnerungszeichen überhaupt anbringen lassen. Damals waren es Wandtafeln für Franz und Tilly Landauer, den Bruder und die Schwägerin des früheren FC-Bayern-Präsidenten Kurt Landauer. Sie und die Hirschs waren Nachbarn.

Für die Stadt München war jener Tag ein Neuanfang im Gedenken - und 39 Monate später ist Zeit für eine erste Bilanz. Jahrelang war in München zuvor heftig um die Stolpersteine gestritten worden. Kritiker bemängelten, mit den in den Boden eingelassenen Platten werde das Andenken an die Toten mit Füßen getreten; der Stadtrat hatte daher untersagt, die Steine auf öffentlichem Grund zu verlegen. 2015 fasste er dann einen zweifachen Beschluss: Erstens sollte es ein Mahnmal mit den Namen aller Münchner Opfer geben. Zweitens sollte eine Alternative zu den Stolpersteinen her: Wandtafeln und Stelen, um wie mit Stolpersteinen im Straßenraum und dezentral an die Ermordeten zu erinnern, aber auf Augenhöhe, nicht im Boden.

Eine Stele wurde geschändet

Das zentrale Mahnmal lässt seither auf sich warten. Zunächst stand die Idee einer Mauer am Hofgarten im Raum, doch die Stadt hat diese mit Verweis auf den Denkmalschutz verworfen. Derzeit werde über eine digitale Lösung nachgedacht, heißt es aus dem Kulturreferat. Einen konkreten Zeitplan gebe es noch nicht.

Die Arbeit an den Wandtafeln und Stelen dagegen hat Fahrt aufgenommen. Die Pandemie habe sie zwar gebremst, sagt die Historikerin Barbara Hutzelmann vom Stadtarchiv, die mit ihrem Kollegen Maximilian Strnad die Arbeit an den Erinnerungszeichen koordiniert. Dennoch gebe es mittlerweile an 47 Häusern in München Wandtafeln oder Stelen, und sie erinnerten an 108 Ermordete.

Vor einem Haus an der Bürkleinstraße 20 im Lehel stehen seit November 2018 gleich zwei Stelen, weil eine nicht reichte: Sie erinnern dort an zwölf ermordete Bewohner, darunter eine Familie mit zwei Kindern. Und eine Stele ist bislang auch geschändet worden: An der Sintpertstraße wurde im Sommer 2021 ein Hakenkreuz ins Metall geritzt. Die Stelle wurde überklebt, die ganze Stele werde nun ausgetauscht, sagt Hutzelmann. Die Stele erinnert an die Sinti-Familie Reinhardt. Die Nazis hatten alle Mitglieder ermordet, die Eltern und sechs Kinder.

Mit Stelen und Wandtafeln ist es für Hutzelmann und Strnad nicht getan: Zu jedem einzelnen Toten recherchieren sie ausführliche Biografien, die online unter erinnerungszeichen.de nachzulesen sind. Und viele Schicksale ließen sie nicht los, sagt Hutzelmann. Sie erzählt etwa von Ernst Zöbisch, den die Nazis 1944 im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek ermordeten. Er war 1942 wegen "fortgesetzter Gaukelei" inhaftiert worden; wie das zu verstehen sei, wüssten sie nicht, sagt Hutzelmann. Es sei überhaupt wenig über Zöbisch in den Akten zu finden, auch Angehörige habe man nicht ausfindig machen können. Seit Juli dieses Jahres erinnert eine Wandtafel an der Tulbeckstraße an den Mann. So habe man ihn zumindest in die Stadt zurückgeholt.

Ab Januar 2022 soll es eine App geben, die zu den Stelen und Tafeln führt

Die Stadt errichtet Wandtafeln und Stelen nur, wenn sie darum gebeten wird. Anträge kommen oft von Angehörigen, aber auch von Hausbesitzern, von Institutionen oder schlicht Menschen, die gedenken wollen. Aktuell seien 155 weitere Erinnerungszeichen beantragt, sagt Hutzelmann, Tendenz steigend. Zum Teil kämen Anfragen auch von weit her, aus Hawaii etwa oder aus Australien; frühere Münchner Familien lebten heute weit verstreut.

Zuletzt wurden auch außerhalb Münchens Erinnerungszeichen angebracht, an einer Kirche und einer Schule in Ingolstadt. Aktuell plane eine weitere Stadt, das Vorbild aus München zu übernehmen - und das Stadtarchiv hat digitale Pläne: Vom 27. Januar 2022 an, dem Tag der Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, soll es eine App für Smartphones geben, die zu den einzelnen Stelen und Tafeln führen und die Geschichten der Toten erzählen soll.

Die Resonanz auf die Erinnerungszeichen sei durchweg positiv, sagt Manfred Heimers, der kommissarische Leiter des Stadtarchivs. Bei der Vorgeschichte sei das nicht selbstverständlich gewesen. Sie hätten nicht ausschließen können, dass sich Befürworter der Stolpersteine gegen die Erinnerungszeichen stellen würden, sagt Heimers. Aber diese Befürchtung sei unbegründet gewesen: "Man sieht sich als Ergänzung." Es gehe allen ums Gedenken. Auch Mitglieder der Münchner Initiative für Stolpersteine hätten bereits Erinnerungszeichen beantragt, sagt Hutzelmann. Und Ehrenamtliche hätten einen Verein gegründet, die "Münchner Geschichtswerkstatt", um die Arbeit für die Erinnerungszeichen zu unterstützen.

Und das Namensdenkmal? An dem arbeiten auch Hutzelmann und Strnad, zumindest indirekt: Sie tragen alle Namen von Münchner Ermordeten zusammen, von Juden und von Sinti und Roma sowie von politischen Gegnern, von Opfern der Nazi-Unrechtsjustiz, von getöteten Kranken und allen anderen, derzeit vor allem von ermordeten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Ziel ist eine Datenbank. Und es gab wohl mehr Opfer als bislang gedacht. Anfangs seien sie von etwa 10 000 Namen von Münchner Opfern ausgegangen, sagt Hutzelmann. Doch derzeit rechneten sie eher mit 12 000. Bevor man ein zentrales Mahnmal mit allen Namen errichten könne, müssten sie mit dieser Arbeit eigentlich erst fertig sein.

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