Es fallen viele nachdenkliche Sätze an diesem Abend, aber die von Charlotte Knobloch bewegen die Zuhörer im Alten Rathaus besonders. Was auch daran liegt, dass die mittlerweile 92-jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern beim Gedenkakt an die Reichspogromnacht von ihren eigenen Erinnerungen an die Nacht vor 86 Jahren erzählt.
Am Samstag, 9. November 2024, sagt Knobloch im Alten Rathaussaal, wie sie sich als damals sechsjähriges Mädchen gefühlt hat, in der Nacht vom 9. November 1938. „Ein Teil von mir ist immer das Mädchen geblieben, das voller Angst die Hand ihres Vaters hält, das zwischen den Schreien der Opfer und dem Johlen der Täter durch die Straßen Münchens irrt.“
Joseph Goebbels hatte damals genau hier, im Alten Rathaussaal, zum Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung aufgerufen. Später brannten Synagogen, Tausende jüdische Geschäfte wurden zerstört und allein in dieser einen Nacht wurden Hunderte Menschen getötet. Wenn Knobloch von Angst spricht, wird diese nahezu greifbar im mit etwa 300 Gästen gefüllten Saal. Sie sagt am Ende aber auch, weil sie nicht zu pessimistisch schließen wolle, was aus ihrer Sicht nun zu tun sei.
Von Angst hatte auch Münchens Zweiter Bürgermeister Dominik Krause eine gute Stunde zuvor am Geschwister-Scholl-Platz vor etwa 150 Menschen gesprochen, die dem Gedenkaufruf des Vereins „München ist bunt“ gefolgt waren.
Er sei die Woche krank gewesen, habe es aber bei der weltpolitischen Lage nicht mehr daheim ausgehalten, sagte der 34-jährige Grünen-Politiker. Trump in den USA, das Ampel-Ende in Berlin, und dann die Bilder aus Amsterdam vor zwei Tagen, als israelische Fußballfans durch die Straßen der niederländischen Hauptstadt gejagt wurden. „In der Schule dachte ich über Antisemitismus: Wie konnte denn so etwas mal passieren?“ Jetzt sei alles wieder schrecklich aktuell.
Oder, wie Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) es beim Gedenkakt später ausdrückt: „Die Ereignisse überschlagen sich gerade.“ Ob in Amsterdam oder Amerika. „Und mit dem Bruch der Ampelregierung bei uns fällt Deutschland als Garant der Stabilität in Europa kurzfristig aus, auch wenn unsere Demokratie immer noch stark ist.“
Im Jahr 1938 habe es so gut wie keine Proteste gegeben, sagt Reiter. Heute brauche es Courage, die gar nicht mal so groß sein müsse, „ein wenig mehr als Gleichgültigkeit“. Und Knobloch, die auf Reiter folgt, sagt: „Das weiß ich auch nach den vielen Jahrzehnten noch: dass niemand geholfen hat.“ Die 92-Jährige mahnt eindrücklich, und formuliert, was es nun und für die Zukunft brauche. „Wenn wir sagen, dass nichts vergessen werden soll, ist das kein bloßes Ritual. Es ist Krafttraining für die Muskeln der Demokratie.“
Es sind fordernde Formulierungen, man merkt Knobloch an, wie oft sie in ihrem Leben schon Hoffnung und Mahnung in Reden verbunden hat. „Was wir nicht verteidigen, das werden wir verlieren“, sagt sie und: „Wer untätig bleibt, ist mitverantwortlich.“ Das habe der 9. November 1938 in aller Brutalität gezeigt.
Der Abend wird musikalisch begleitet von Schülern des Camerloher-Gymnasiums in Freising, die später auch noch von einigen Schicksalen Freisinger Juden von damals berichten, und LMU-Professor Armin Nassehi hält einen Vortrag über Antisemitismus. Doch Knobloch, die zierliche Frau, sie bewegt am meisten.
Weil sie als Betroffene so formuliert, dass man ermahnt und ermuntert zugleich ist. „Demokratie ist unmöglich, wenn man nicht versteht, was ohne Demokratie möglich wird“, sagt sie noch, und am Ende: Einsatz zeigen, darum gehe es. „Alles anders zu machen als die Menschen, die heute vor 86 Jahren zusahen, als die Menschlichkeit vor ihren Augen buchstäblich mit Füßen getreten wurde. Wir brauchen diese Tatkraft, um zu erhalten, was wir schätzen: unser Miteinander.“