Wenn Pfarrerin Sonja Simonsen sich sonntags vor die Kirchenbesucher stellt, muss sie sich sehr konzentrieren. Ein paar falsche Gesten – und der Sinn ihrer Predigt könnte dahin sein. Denn die 49-Jährige, die selbst nicht gehörlos ist, predigt mit den Händen: Seit 13 Jahren ist sie Pfarrerin der gebärdensprachlichen Gemeinde für München und das Umland.
Eine ziemlich besondere Position also, die evangelische Kirche hat in Bayern gerade einmal acht gebärdensprachliche Seelsorgerinnen und Seelsorger, die meisten von ihnen arbeiten in Teilzeit. Dennoch mag es Simonsen nicht, wenn sie in den Mittelpunkt gerückt wird. „Wir sind ein Team“, sagt sie. Eines der wichtigsten Mitglieder: Juho Saarinen, er arbeitet nicht nur in der Evangelisch-Lutherischen Gehörlosen-Seelsorge mit, ihn holt sie auch zur Hilfe, sollte es einmal mit der Kommunikation nicht klappen. „Ich habe da immer weniger zu tun, du machst das richtig gut, Sonja“, wehrt er ab, als sie das erzählt. Beim Gespräch mit der SZ übersetzt Dolmetscherin Meike Döllefeld die Passagen des Gesprächs, die in Gebärdensprache geführt werden.
Wenn der Chor auftritt, gibt es viel zu sehen
Saarinen ist selbst gehörlos, der 61-Jährige verständigt sich ausschließlich mit Gebärden. Für Sonja Simonsen ist es gewissermaßen eine Fremdsprache, die sie seit vielen Jahren lernt, denn weder ihre Eltern noch andere Familienmitglieder sind gehörlos.
Ein Pfarrer hatte sie während der Konfirmandenzeit für das Thema begeistert, es folgte ein Freiwilliges Soziales Jahr in seiner Gemeinde in Nürnberg und schließlich die Ausbildung für Gehörlosenseelsorge. Seit 2012 hat sie eine halbe Stelle als Pfarrerin in der Gebärdensprachlichen Kirchengemeinde und ist somit Ansprechpartnerin für etwa 300 Gehörlose in München und dem weiteren Umland sowie deren Angehörige. Ein Angebot für gehörlose und schwerhörige Gläubige hält auch die katholische Kirche vor; inklusive Gottesdienste gibt es an mehreren Standorten in der Region, an Sonn- und Feiertagen wird der Gottesdienst-Stream aus dem Liebfrauendom in Gebärdensprache übertragen.
In Sonja Simonsens Gemeinde steht im Mittelpunkt nicht, was den Mitgliedern fehlt – nämlich das Gehör –, sondern das, was sie als besonders auszeichnet: die Gebärdensprache eben. Das Gemeindeleben ist bunt und abwechslungsreich, jeden dritten Sonntag im Monat wird in der Passionskirche in Obersendling ein Gottesdienst gefeiert, danach trifft man sich zum Gemeindenachmittag. Es gibt eine Jugendgruppe, einen Seniorenstammtisch und gemeinsame Unternehmungen wie etwa Wandergruppen.
Und einen ganz besonderen Chor. Wenn der auftritt, gibt es zwar nichts zu hören, dafür viel zu sehen – „Gebärdensprachpoesie“ nennt Sonja Simonsen diese Kunstform: Mit Gesten und Mimik bieten die etwa 16 Mitglieder Lieder zum Lob Gottes dar, weit ausholend, voller Schwung und Freude, ein bisschen wie bei einem Tanz. Und wie bei Gemeinden mit Hörenden gibt es auch hier ein paar Stücke, die die Kirchenbesucher besonders lieben und bei denen sie begeistert selbst mit einstimmen, „Gassenhauer und Evergreens“ nennt sie Simonsen. „Wir zeigen Bilder, die berühren, wir wollen visuell ansprechen“, sagt Chorleiter Juho Saarinen. Der gebürtige Finne hat nicht nur eine theologische Ausbildung, er ist auch Choreograph und Regisseur und somit für seine Aufgabe durchaus prädestiniert.

Für Sonja Simonsen hat es, wie sie zugibt, am Anfang einigen Mut erfordert, als Hörende zu einer Gemeinschaft von gehörlosen Menschen zu predigen: „Es war wahnsinnig aufregend“, sagt sie. Noch immer verwendet sie viel Zeit auf die Vorbereitung der monatlichen Gottesdienste, schwierige biblische Passagen bespricht sie zuvor mit Gebärdensprachdolmetscherin Meike Döllefeld. Außerdem bereitet die Pfarrerin eine visuelle Unterstützung auf Powerpoint vor, zu lesen ist auf den Projektionen beispielsweise eine grobe Gliederung des Gottesdienstes oder die Bibelstelle, die gerade vorgelesen wird. Letzteres macht sie übrigens nicht selbst, ehrenamtlich tätige Gemeindemitglieder übernehmen das.
„Jeder Gehörlose, der sich mit mir unterhält, weiß nach 20 Sekunden: Sie ist hörend.“
Obwohl Simonsen nun schon viele Jahre bei der gebärdensprachlichen Gemeinde tätig ist, lernt sie immer noch dazu, wie sie sagt. Relativ einfach sei es anfangs gewesen, sich mit Gesten verständlich zu machen – schwierig aber, selbst Unterhaltungen zu folgen, jedenfalls dann, wenn es mehr sei als eine lockere Plauderei. Das ist eben auch wie bei einer Fremdsprache. Und die Gespräche, die Simonsen mit ihren Gemeindemitgliedern führt, gehen weit über das hinaus, leistet sie doch beispielsweise auch Beistand bei Todesfällen oder in schwierigen Lebenssituationen, das ganze Spektrum des Pfarrerberufs eben.

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„Das hat bestimmt fünf Jahre gedauert, bis ich da richtig drin war“, sagt sie. Auf die Frage, ob man sie mittlerweile mit jemandem verwechseln könnte, für den die Gebärdensprache gewissermaßen die Muttersprache ist, lacht sie. „Auf keinen Fall! Jeder Gehörlose, der sich mit mir unterhält, weiß nach 20 Sekunden: Sie ist hörend.“ Auch Juho Saarinen grinst: „Nach 70 bis 80 Sekunden vielleicht“, sagt er.
Und es ist ja nicht mal so, dass es nur um zwei verschiedene Sprachen geht. Viele der älteren Gemeindemitglieder sind noch in einer Zeit aufgewachsen, als es die Deutsche Gebärdensprache unter Gehörlosen zwar schon gab, sie aber noch nicht offiziell anerkannt war. Gebärden wurden von hörenden Pädagogen – wenn überhaupt – nur zur Untermalung des lautsprachlich Gesprochenen verwendet. Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG) nennt sich das. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist hingegen eine eigene Sprache für sich, mit einer eigenen Grammatik, die deutlich vom lautsprachlichen Deutsch abweicht – eine reiche Sprache mit eigenem Wortschatz und einer der Sprachgemeinschaft eigenen Kultur.
Auch die Landessprachen sind sehr unterschiedlich – das merkt die Pfarrerin immer wieder
„Früher ging es vor allem darum, schön zu sprechen“, sagt Sonja Simonsen, Juho Saarinen ergänzt: „Früher haben Hörende die Regeln vorgegeben.“ Da sei es nur darum gegangen, die Lautsprache zu erlernen. „Der Stolz auf die eigene Sprache, das Wissen darum, was wir damit alles ausdrücken können, das kam erst später.“
Hörende, die die Gebärdensprache lernen, müssen sich gewaltig umstellen, die Sätze ganz anders konstruieren als in der gesprochenen Sprache. Und so manche Klippen umschiffen, die in die Unterhaltung einen schiefen Ton hineinbringen könnte: Spricht man etwa vom Heiligen Geist, würde es völlig auf die falsche Fährte locken, würde man das Wort für den Geist aus einem Gruselmärchen gebärden. Will man über das Reich Gottes erzählen, ist die Gebärde für reich im Sinne von wohlhabend komplett irreführend. Manchmal allerdings, wenn Sonja Simonsen ihren Kollegen Juho Saarinen im Gespräch verwirrt ansieht, ist die Ursache eine ganz andere Mehrsprachigkeit: „Dann weiß ich, dass ich wohl aus Versehen wieder ins Finnische verfallen bin“, sagt Saarinen. Denn auch wenn man als Außenstehender glauben könnte, die Gebärden seien universell, gibt es hier in den Landessprachen große Unterschiede.
Immer mehr Menschen freilich, die mit einer Hörschädigung geboren werden, sind überhaupt nicht mehr auf die Gebärdensprache angewiesen, neben der generell sinkenden Zahl der Gläubigen einer der Gründe dafür, dass Sonja Simonsens Gemeinde eher kleiner wird. „Heute hat sich viel verändert im Vergleich zu der Zeit vor 40 oder 50 Jahren“, erläutert sie. Babys, die wenig oder gar nichts hören, werden in der Regel gleich mit einem Cochlea-Implantat versorgt, einer Innenohrprothese, die die Funktion der Hörschnecke in gewissem Maße ersetzen kann und es den Trägern ermöglicht, sich gut in der Welt der Hörenden zurechtzufinden.
Zwar gibt es keine exakte Statistik, wie viele Hörgeschädigte in Deutschland dieses Implantat bereits tragen, nach Angaben der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft, eines Selbsthilfevereins, dürften es aber an die 60 000 Menschen sein, jährlich kommen etwa 5000 Implantat-Trägerinnen und Träger dazu.
Umso mehr freuen sich Simonsen und Saarinen, dass es in diesem Jahr eine große Konfirmandengruppe mit Jugendlichen aus der Kirchengemeinde gibt – hörenden wie gehörlosen. Und als die 49-Jährige kürzlich in Poing als zweite Pfarrerin und neue Kollegin ihres Ehemannes Michael Simonsen eingeführt wurde, war selbstverständlich der Gebärdenchor Teil des Festprogramms.

