Gemeinhin gilt das aufgewärmte Essen von gestern oder vorgestern nicht unbedingt als der höchste Genuss, sieht man mal von Gulasch oder Sauerkraut ab. Geht man aber noch weiter zurück als nur ein paar Tage, Monate oder Jahre, wird es plötzlich wieder interessant: Denn Essen hat ja doch viel zu tun mit Alltags- und Kulturgeschichte, was einem so normalerweise gar nicht bewusst ist.
Auch in der Monacensia, dem literarischen Gedächtnis der Stadt, war man sich dessen wohl nicht so ganz klar, damals in den Achtzigerjahren, als man die Sammlung von rund 380 Speisekarten aus Münchner Gaststätten gestiftet bekam. Sonst hätte man wohl aufgeschrieben, wie sie in die Sammlung kamen und warum sie überhaupt gesammelt wurden. Nichts dergleichen geschah, aber wegwerfen wollte man die Karten dann auch wieder nicht. So blieben sie in der Sammlung, ohne dass dort bis heute jemand Näheres dazu weiß.
Dafür findet man sie jetzt, für jeden zugänglich, in der digitalen Welt. Zu verdanken ist das Anke Buettner, der neuen Leiterin der Monacensia, und der IT-Gruppe Geisteswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität. Die beteiligte sich an "Coding da Vinci", einem Projekt verschiedener Stiftungen, die Kulturinstitutionen mit der digitalen Welt vernetzen wollen und einschlägige Vorhaben fördert. So kamen die Monacensia und die LMU-Studenten zusammen und entschied sich dafür, die Speisekartensammlung in einer Art Pilotprojekt digital aufzubereiten. Beim "Kulturhackathon Süd", der von Anfang April bis Mitte Mai in Bayern und Baden-Württemberg stattfand und an dem 30 Kulturinstitutionen teilnahmen, präsentierte das Team dann sein Ergebnis unter dem Titel "Schmankerl Time Machine" - und gewann prompt den Preis in der Kategorie "most technical".
Spiegelbild der Zeitgeschichte: Das Wirtshaus im Spessart am alten Messegelände war 1959 wohl ein frühes Themenrestaurant.
Recht künstlerisch kommt das P 1 daher: als "fideles Atelier" auf einer Malerpalette.
Die IT-Gruppe Geisteswissenschaften von Alexandra Reißer, Julian Schulz, Stefanie Schneider und Linus Kohl haben die digitalisierten Speisekarten aufbereitet, in einer bedienungsfreundlichen Plattform angerichtet und mit ein paar zusätzlichen Funktionen abgeschmeckt und gewürzt. So kann man teilweise passende Rezepte zu den Speisen auf der Karte abrufen, Abbildungen der Lokale aus dem Münchner Stadtarchiv abrufen oder sich auch mal ein individuelles Menü zusammenstellen. Fehlt eigentlich nur noch der Link zum Lieferservice, der einem das Menü dann an die Haustür bringt. Wäre freilich schwierig, denn die meisten Lokale gibt es nicht mehr. Und wenn doch, dann haben sich die Speisen und die Preise erheblich geändert.
Ganz sicher trifft das zu auf das Gasthaus Anton Tafelmeyer in der Ottostraße. Von dort stammt die älteste Speisekarte aus der Sammlung, 1855 wurde sie geschrieben. Da gibt es tatsächlich schon das halbe Hendl zu 18 Kreuzer und Maccaroni für 15 Kreuzer - offenbar eine echte Delikatesse, denn der klassische "Niern-Braten" war schon für zwölf Kreuzer zu haben.
Sehr schön auch eine Speisekarte des Hotels Vier Jahreszeiten vom 28. Februar 1926. Dasselbe Jahr übrigens, in dem das Luxushotel von Alfred und Otto Walterspiel übernommen wurde. Alfred Walterspiel machte das Restaurant des Hauses dann zu einem der besten und angesehensten Deutschlands. Aus der Karte ist das noch nicht so ganz ersichtlich, aber es gibt Ausgefallenes. Unter den Vorspeisen zum Beispiel "Scotch Wood Cock", ein englischer Toast mit Relish, Rührei und Anchovis, oder auch "Sardellen nach Balzac", beides jeweils für 1,50 Reichsmark. Bei den Süßspeisen ist der "Eisbecher Palestrina" blau unterstrichen. Warum, das ist auf der Rückseite handschriftlich vermerkt: "aus Briefwechsel Hans Pfitzner mit Otto Fürstner in Handschr.-Sammlung enthalten. Von Pfitzner aufgehoben wegen ,Eisbecher Palestrina'." Offenbar hatte dem Komponisten gefallen, dass der Eisbecher nach seiner 1917 uraufgeführten Oper "Palestrina" benannt worden war.
So stößt man auf viele hübsche Details, wenn man die Speisekarten durchstöbert. So kostete ein halbes Hendl in den großen Wiesnzelten schon in den Sechzigerjahren ziemlich einheitlich fünf Mark, und in einem der ersten Vegetarier der Stadt, dem Quisisana in der Landwehrstraße, standen bereits 1938 die unvermeidlichen Kässpatzen auf der Karte. Nett auch: Im Humplmayr, jahrzehntelang eines der besten Restaurants Münchens, gab es 1959 doch glatt 50 Gramm "Malossol-Caviar aus der Originaldose" für schlappe 15 Mark.
Große weite Welt: Das Opatija war eines der ersten Balkanrestaurants der Stadt. Die Karte ist aus dem Jahr 1962.
Hier eine Menükarte aus dem Künstlerhaus am Lenbachplatz von 1911.
Die Speisekarte des Quisisana von 1938 enthielt ausschließlich Vegetarisches und dürfte Adolf Hitler gefallen haben.
Die "fettlose" Kriegskarte aus dem Mathäserbräu von 1916 steht für die Notzeit der Kriegsjahre.
Die "Schmankerl Time Machine" ist durchaus noch ausbaufähig, meinen ihre Macher; wer Erkenntnisse zu den Speisekarten beizutragen hat, kann sich an die Monacensia wenden. Die Plattform selbst ist über die etwas umständliche Adresse: "dhvlab.gwi.uni-muenchen.de/schmankerltimemachine" zu erreichen. Unkomplizierter geht es, wenn man "Schmankerl Time Machine" in eine Suchmaschine eingibt. Möglicherweise wird alles einfacher, wenn die Monacensia zum Jahreswechsel eine neue Website bekommt. Derzeit, so Anke Buettner, sei man erst noch dabei, "eine digitale Infrastruktur aufzubauen".