Süddeutsche Zeitung

Naturschutz:München, du hast die Gans geschossen

Auch in der Stadt werden Wildtiere gejagt - ganz offiziell. Doch mitten auf dem Waldfriedhof hat es nun ein besonderes Exemplar erwischt.

Von Thomas Anlauf

Nicht einmal auf dem Friedhof ist sich die Gans ihres Lebens sicher. So gibt es im Münchner Waldfriedhof und im Westpark eine Gruppe Kanadagänse, die im Winter regelmäßig von dort in den Nymphenburger Schlosspark umsiedeln. Richtiger ist: Es gab sie. Die Münchner Biologin Silke Sorge musste nun feststellen, dass eine ganz bestimmte Gans verschwunden ist. Sie wurde bei einer Jagd im November mitten auf dem Waldfriedhof abgeschossen.

Nun war das für Silke Sorge nicht irgendeine Gans. "Sie war die letzte beringte Kanadagans aus dem Süden Münchens", erklärt sie. Für die Vogelexpertin bedeutet dies, dass es nun nicht mehr möglich ist, die verbliebene Gänsegruppe vom Waldfriedhof zu identifizieren und festzustellen, ob und wann sie den Westpark, das Schloss Nymphenburg oder im Herbst auch den Fasaneriesee anfliegen. Dabei hat die Ornithologin, die regelmäßig vogelkundliche Führungen in Münchner Parks anbietet, das Verhalten insbesondere der Münchner Wildgänse anhand der Beringung seit vielen Jahren beobachtet und dokumentiert. Die Arbeit des norddeutschen Forscherpaares Susanne Homma und Olaf Geiter in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts, die im Olympiapark Gänse beringten, half Vogelkundlern bei ihren Untersuchungen.

Für den Abschuss im Waldfriedhof hat Silke Sorge kein Verständnis. "Die Kanadagänse kommen dort in nennenswerter Zahl nur im Sommer vor", sagt sie. "Eigentlich hatte ich bis vor Kurzem geglaubt, das Thema Gänsejagd hätte sich für München befriedet." Doch dem ist nicht so, wie das Kreisverwaltungsreferat (KVR) auf Anfrage mitteilt. So könne die Jagdbehörde auch auf Münchner Friedhöfen außerhalb der gesetzlichen Schonzeiten Jagd auf Gänse machen, wenn bestimmte Gründe dafür vorlägen. Dazu zählen laut KVR etwa "gesundheitliche Gefährdungen" und die "Abwendung von materiellen Schäden". Als Schäden werden die Überdüngung von Gewässern und "die Verkotung und Beweidung von Rasenflächen und Pflanzanlagen" speziell bei Wildenten, Wildgänsen und Möwen genannt.

775 Wildtiere sind in einem Jahr in München gejagt worden

Möwen allerdings hat Silke Sorge nach ihren Angaben im Waldfriedhof noch nie gesehen. Auch die "Beweidung" von Rasenflächen kann sie als Argument so nicht gelten lassen. "Die Gänse mögen gemähte Wiesen, aber jetzt gibt es um den See eine hohe Wiese", sagt sie. Die neue Blühwiese sei speziell für Honigbienenvölker dort angelegt worden.

Doch auch das Gesundheitsreferat, das für die städtischen Friedhöfe zuständig ist, betont auf Anfrage: "Gänse treten auf dem Waldfriedhof als Populationen auf und verursachen in vielerlei Bereichen enormen Schmutz: In Gewässern, auf den Rasenflächen und Pflanzanlagen, aber auch auf Gräbern und der Aussegnungshalle." Deshalb müsse dort regelmäßig und stark gereinigt werden.

Allerdings verweist das Gesundheitsreferat darauf, dass die städtischen Friedhöfe mit ihren 420 Hektar Gesamtfläche auch dem Naturschutz dienen, unter anderem dem Erhalt von Biotopen und der Förderung der wild lebenden Flora und Fauna. Ziel der Friedhofsverwaltung sei "die verantwortungsvolle Balance zwischen Aufrechterhaltung des Bestattungsbetriebs, dem Friedhof als Trauer- und Gedenkort, der Unversehrtheit der Gräber sowie dem austarierten Umgang mit Fauna und Flora".

Zu dem Umgang mit Pflanzen und Tieren auf den Friedhöfen zählt aber eben auch der Abschuss von wilden Tieren, etwa Füchsen, die gerne in Grabanlagen wohnen und womöglich den Fuchsbandwurm verbreiten. Marder wiederum verursachen Schäden an Fahrzeugen und Gebäuden. Insgesamt 775 Wildtiere sind zwischen 1. April 2020 und 31. März 2021 in München gejagt worden, allerdings nicht nur auf Friedhöfen.

Für die verbliebenen Kanadagänse im Waldfriedhof ist zunächst wieder Ruhe eingekehrt. Die Jagdsaison ist seit wenigen Tagen wieder vorbei - bis August.

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