In dieser Woche rollten wieder mal Lastwagen über den Rasen des Münchner Olympiastadions. Am Donnerstag lieferten sie Schwerlastplatten, die auf Höhe des Mittelkreises verlegt wurden; darauf wurde dann am Freitag ein Truck abgestellt, mit integrierter Videowand auf der Ladefläche. Es ist der mittlerweile vierte Bildschirm, der im Olympiapark steht fürs Public Viewing, der öffentlichen Übertragung von Fußball-EM-Spielen. Mit einer Fläche von 160 Quadratmetern ist er auch der größte – sichtbarer Beleg für das enorme Interesse am gemeinsamen Fußballschauen. „Wir sind positiv überrascht, dass der Zuspruch von Anfang an so groß ist“, sagt Marion Schöne, die Chefin der Olympiapark München GmbH (OMG).
Ursprünglich war das Stadion ja gar nicht vorgesehen als Schauplatz von EM-Übertragungen; dort sollten in diesen Tagen lange geplante Sanierungsmaßnahmen erledigt werden. Aber weil die offizielle Fan-Zone am Hans-Jochen-Vogel-Platz in den ersten EM-Tagen mehrmals an ihre Kapazitätsgrenze von 25 000 Besuchern gestoßen ist, wurde auf die Schnelle zumindest die Gegentribüne im Stadion für Zuschauer hergerichtet. Dort können am Samstag nun weitere 20 000 Fans das in Dortmund ausgetragene Achtelfinale der deutschen Mannschaft gegen Dänemark sehen. Anpfiff des Spiels ist um 21 Uhr, Einlass ins Olympiastadion ab 17 Uhr; die Fan-Zone nebenan ist wie bisher ab 13 Uhr geöffnet. Die kann nun bei Bedarf auch bei weiteren deutschen Spielen und den in München anberaumten Partien am 2. und 9. Juli ins Stadion ausgedehnt werden.
Auch wenn es gehörige Mehrarbeit für ihr Team bedeutete, fand Marion Schöne das „eine erfreuliche Entwicklung vor dem Hintergrund, dass das Interesse am Public Viewing ja grundsätzlich abgenommen hatte in den letzten Jahren“. Und Europameisterschaften ohnehin schlechter besucht waren als Weltmeisterschaften. Insofern erlebt das bei der WM 2006 in Deutschland erstmals im großen Stil praktizierte Public Viewing gerade eine Renaissance.
Die eine Million Besucher, die 2006 beim Fan-Fest im Olympiapark gezählt wurden, sind danach nie mehr auch nur annähernd erreicht worden. Was wohl auch daran liegt, dass die OMG bei späteren Turnieren allenfalls noch für deutsche Spiele und Finals ein Public Viewing organisierte. Bei der EM 2008 kamen im Schnitt 29 000 Besucher zu den Halbfinals und dem Endspiel. Bei der WM 2010 schauten noch 24 000 Fans im Olympiapark zu, bei der EM 2012 knapp 16 000. Selbst beim WM-Triumph 2014 waren es nicht mehr – da trübte das schlechte Wetter die Stimmung. Bloß beim Finale waren die 33 000 zur Verfügung stehenden Plätze im Olympiastadion voll besetzt.
Bei der EM 2016 ließ das Interesse weiter nach, „vielleicht, weil im Prinzip überall Public Viewing angeboten worden ist, in Biergärten und Gaststätten“, sagt Tobias Kohler, der Pressesprecher der OMG. Für die WM 2018 verzichteten sie deshalb von vornherein auf die Übertragung von Vorrundenspielen, „da wären wir erst zum Halbfinale und Finale eingestiegen“, sagt Kohler, „aber so weit ist die deutsche Mannschaft ja nicht gekommen“.
Bei den folgenden Turnieren litt das Interesse ebenfalls unter der Erfolglosigkeit der deutschen Auswahl, dazu an der Corona-Pandemie (wegen der die EM 2020 auf 2021 verschoben wurde) sowie dem Winter-Termin bei der WM 2022 in Katar.
In diesem Jahr boomt das Public Viewing wieder. Nach der Vorrunde bilanzierte die Olympiapark GmbH bereits 360 000 Gäste – obwohl das Gelände zweimal wegen eines Gewitters geschlossen blieb. Aber nicht nur in die offizielle Fan-Zone strömen die Menschen. „Es sind viel mehr Leute da als bei allen WMs und EMs vorher“, sagt der Backstage-Betreiber Hans-Georg Stocker, der traditionell alle Spiele bei großen Turnieren überträgt.
Obwohl er sein Veranstaltungsgelände an der Friedenheimer Brücke erweitert hat und nun auf einem Dutzend Bildschirmen und Leinwänden im Inneren und Äußeren Spiele zeigen kann, wird es eng. Er habe Platz für etwa 3600 Fußball-Fans, überschlägt er: „Wir haben bis jetzt niemanden heimschicken müssen, aber wir kommen an Grenzen.“ Zumal sich schon vor langer Zeit etliche Abiturfeiern für Samstag bei ihm eingebucht hatten. „Wir schauen, dass wir mehr Stehplätze einrichten können“, sagt Stocker.
Auch das Stadion an der Schleißheimer Straße, eine der bekanntesten Fußball-Kneipen des Landes, wird gut frequentiert – Geschäftsführer Holger Britzius hat am Freitag etliche Reservierungsanfragen abgesagt, weil er nur Platz hat für 140 Menschen. Er hat in diesem Sommer aber auch schon die Erfahrung gemacht, dass kurzfristig Reservierungen storniert werden – wenn das Wetter zu schön ist, um drinnen zu schauen. „Völlig nachvollziehbar“ findet er das.
Die große EM-Euphorie sei in seiner Gaststätte noch nicht ausgebrochen, berichtete er, „aber mit einem Weiterkommen gegen Dänemark ist das bei dieser Heim-EM schon noch möglich – dann aber bei solch großartigem Wetter draußen im Olympiapark oder in den Biergärten“.
Was Britzius bislang festgestellt hat: Es kommen nicht nur Stammgäste. „Das Publikum ist sehr international, und im Gegensatz zur normalen Saison haben wir speziell bei Teams anderer Länder auch viel mehr weibliche Fans.“ Eine Beobachtung, die sich mit der von Olympiapark-Chefin Marion Schöne deckt: „Wir beobachten, dass sich das Publikum bei uns deutlich von dem im Stadion unterscheidet. Es ist jünger, weiblicher und deutlich entspannter. Wir sehen auch viele Familien.“
Der Zuschauerandrang habe „sicher auch mit der Euphorie um ein Heim-Turnier zu tun und mit dem guten Start der deutschen Mannschaft“, glaubt Schöne. Und vielleicht auch damit, „dass es das erste große Fußballfest nach Corona ist“. Das ist ein Eindruck, den sie auch bei den privaten Public-Viewing-Betreibern nicht von der Hand weisen: Dass die EM gerade recht kommt, um die Menschen von den Krisen der Welt abzulenken, um ihnen einen Anlass zum gemeinsamen Feiern zu bieten.