Süddeutsche Zeitung

Sexualisierte Gewalt an Frauen:"Ich war wie zerbrochen. Innerlich leer"

Lesezeit: 3 min

Seit 30 Jahren kümmern sich die Mitarbeiterinnen des Frauennotrufs in München um Opfer sexualisierter Gewalt. In ihrer neuesten Kampagne sprechen Betroffene über ihre Erlebnisse.

Von Katharina Haase

Als Natalia Zollitsch in jener Nacht in das Auto ihres Freundes steigt, weiß sie noch gar nicht so genau, was gerade eigentlich passiert ist. "Es war, als wären mein Körper und mein Geist voneinander getrennt. Ich war wie zerbrochen. Innerlich leer." Der Freund fragt, ob er sie zur Polizei fahren soll. Doch Natalia will nicht. Sie will schweigen, und vergessen, dass sie gerade von einem Bekannten, einem Menschen, dem sie zuvor vertraute, vergewaltigt wurde.

Zehn Jahre ist das nun her. Zehn Jahre, in denen viel passiert ist. Aus Isolation und Depression erwuchs der Mut zur Aufarbeitung. Heute kann Zollitsch über das sprechen, was in jener Nacht passierte. Und das tut sie auch öffentlich, wie jetzt auf einer Pressekonferenz zum 30-jährigen Bestehen der Beratungsstelle Frauennotruf. Zollitsch ist eines der Gesichter der Speak-up-Kampagne, die Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, Mut machen soll, sich Hilfe zu suchen und die Spirale des Schweigens zu durchbrechen.

Bereits 1981 gründete eine Fraueninitiative in München den "Notruf für vergewaltigte Frauen", der auf ehrenamtlicher Basis Beratung und Selbsthilfegruppen anbot. Im Jahr 1987 stieg die Stadt München mit finanzieller Unterstützung ein, im Jahr 1992 ging der Frauennotruf in seiner heutigen Form daraus hervor. Statt damals vier gibt es heute 16 feste Mitarbeiterinnen, die sich um die Hilferufe der Betroffenen kümmern. Im Jahr 2021 waren das 1899 Frauen, die persönlich, telefonisch oder online Kontakt zur Beratungsstelle suchten.

Laut einer Studie der Bundesregierung erleben 60 Prozent aller Frauen in Deutschland sexuelle Belästigung. Jede siebte Frau wird im Laufe ihres Lebens Opfer strafrechtlich relevanter sexualisierter Gewalt. Nur jede zweite wagt es, mit jemandem darüber zu sprechen und nur rund zehn Prozent aller Vergewaltigungen werden zur Anzeige gebracht. Lediglich ein Bruchteil der Anzeigen endet mit einer Verurteilung des Gewalttäters.

Viele der Opfer wollen lieber schweigen

Das muss sich ändern, sagt Maike Bublitz, Geschäftsführerin des Frauennotrufs und mittlerweile seit 22 Jahren dort aktiv. "Wir sind ein gemeinnütziger Verein, dessen erklärtes Ziel es ist, der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken. Am liebsten würden wir sie ganz abschaffen, aber das wird wohl so leicht nicht funktionieren. Also müssen wir die Gesellschaft sensibilisieren und aufklären." Deshalb sei vor allem die Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiger Aspekt bei der Arbeit des Frauennotrufs.

Das Angebot der Beratungsstelle ist groß. Sie leistet akute Krisenintervention und Traumatherapie, veranstaltet Selbstbehauptungstrainings, Präventionsschulungen und hilft bei häuslicher Gewalt. Zudem gibt es spezielle Beratungsgruppen für ältere oder behinderte Frauen und gelegentliche Kooperationen mit anderen Hilfsinitiativen, wie die Aktion Sichere Wiesn gemeinsam mit der Beratungsstelle Imma. Leider, so Bublitz, sei sexualisierte Gewalt auch heute immer noch so schambehaftet, dass viele der Opfer lieber schweigen.

Das hat auch Natalia Zollitsch lange Zeit getan. Außer dem Freund, den sie damals bat, sie abzuholen, erzählt sie zunächst niemandem von der Vergewaltigung. Vier Jahre lang verbannt sie jede Erinnerung an das Geschehene konsequent aus ihrem Leben und ihrem Gedächtnis. "Ich musste ja weiter funktionieren", sagt die 30-Jährige. Ihr Sozialleben jedoch litt enorm unter der Verdrängung. "Ich habe keine engen Bindungen mehr zugelassen, nicht mal zu meinen Eltern, um mich nicht öffnen zu müssen, um das Erlebte nicht nach oben kommen zu lassen. Und auch, um die Menschen, die mir wichtig waren, nicht zu verletzten, zu schockieren oder traurig zu machen. Das war meine Survival-Strategie."

Nach vier Jahren wird Zollitsch depressiv und beginnt eine Therapie, in deren Verlauf sie auch die Vergewaltigung und ein Missbrauchserlebnis in ihrer Jugend aufarbeitet. Als sie im Jahr 2021 im Rahmen der Speak-up-Kampagne mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit geht, ist das wie ein Befreiungsschlag. Und eine Sache wird ihr besonders bewusst: "So viele Frauen, auch aus meinem persönlichen Umfeld, haben sich bei mir gemeldet und mir ihre Geschichte erzählt. Da ist mir klar geworden, welche Vorbildfunktion ich auch habe, indem ich das, was ich erlebt habe, öffentlich mache." Deshalb sei der Gang an die Öffentlichkeit richtig und wichtig, um die Gesellschaft zu einem Umdenken zu animieren.

Ein Gesicht und eine Stimme für die Opfer sexualisierter Gewalt

So sieht das auch Ingrid Reich, die die Öffentlichkeitsarbeit des Frauennotrufs leitet: "Eine Sache ist mir besonders wichtig zu sagen: Bei sexualisierter Gewalt geht es nie um Sexualität. Es geht immer nur um Macht." Dass sexuelle Gewalt auch in einer aufgeklärten Gesellschaft ein Mittel zur Unterwerfung von Frauen und Mädchen sei und vielen Opfern auch heute noch eine Mitschuld an ihren Erlebnissen gegeben werde, zeuge von noch immer desaströsen Zuständen. "Es hat sich schon viel getan in den letzten 30 Jahren. Doch es ist auch noch ein langer Weg zu gehen."

Frauen wie Natalia Zollitsch geben den Opfern sexualisierter Gewalt ein Gesicht und eine Stimme. Sie wollen zeigen, dass man sich als Opfer nicht verstecken muss. "In der Therapie habe ich gelernt zu verstehen, dass die Gewalt, die mir angetan wurde, ein Teil meines Lebens ist", so Zollitsch. Man könne das Geschehene nicht rückgängig machen, indem man es ignoriere. Aber man könne lernen, damit trotzdem glücklich zu leben. "Der Täter hat schon genug Macht über mich gehabt. Warum sollte ich ihm auch noch die Macht geben, weiterhin über mein Leben zu bestimmen?"

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