Am Tag danach liegt die Implerstraße so ruhig da, als wäre nichts geschehen. Sendling geht seinen Geschäften nach, geht einkaufen, arbeiten, spazieren. Nur vor der Hausnummer 27 passiert Ungewöhnliches: Ein Kamerateam filmt minutenlang den Eingang zum Penny-Supermarkt, und immer wieder stößt sich jemand fast den Kopf an der Glas-Automatiktür, weil die einfach nicht aufgeht. Ein scheckkartengroßer Aufkleber ist das Einzige, was darauf hindeutet, was am Abend zuvor hier geschehen ist – ein Verschlusssiegel der Polizei.
In dem Supermarkt ist am Montagabend eine Frau von der Polizei erschossen worden, nachdem sie die Einsatzkräfte mit dem Messer attackiert haben soll. Die Angreiferin sei noch an Ort und Stelle gestorben, sagte eine Polizeisprecherin kurz nach dem tödlichen Vorfall der Süddeutschen Zeitung.
Nach Informationen des Polizeipräsidiums war die Frau zunächst in der Goethestraße mit einem Mann aneinandergeraten. Gegen 18.40 Uhr meldete sich eine Zeugin, die die „mögliche Körperverletzung zwischen wenigen Beteiligten“ beobachtet hatte, telefonisch bei der Polizei. Sie folge nun der Tatverdächtigen, berichtete die Anruferin.
Die Frau und die Zeugin steigen in eine U-Bahn und fahren zwei Stationen stadtauswärts bis in die Implerstraße. Zwei Polizeistreifen werden dorthin geschickt, vier männliche Beamte von den Inspektionen 11 (Altstadt) und 14 (Westend). An der Ecke Impler- und Alramstraße stoßen die Polizisten auf die Zeugin. Die Tatverdächtige ist mittlerweile in den gegenüberliegenden Penny-Markt gegangen. Die Beamten folgen ihr. Um 18.50 Uhr treffen sie im Verkaufsbereich auf die Frau und sprechen sie an.
Plötzlich habe die 31 Jahre alte Münchnerin ein mitgebrachtes Küchenmesser gezogen, berichtet die Polizei. Die Frau sei auf die Beamten zugegangen und habe sie „in einem Abstand von wenigen Metern“ damit bedroht. „Messer weg!“, rufen die Polizisten. Doch vergeblich. „Auf die deutliche Ansprache, das Messer wegzulegen, reagierte die 31-jährige Frau nicht, weshalb Pfefferspray eingesetzt wurde“, so die Polizei weiter.
Offenbar konnte auch diese Maßnahme die Frau nicht stoppen. Sie sei auf die in ihrer Nähe stehenden Polizisten losgegangen, sagte Andreas Franken, Pressesprecher der Münchner Polizei, am Dienstagmittag. Das Ganze sei sehr schnell gegangen. Franken sprach von einem „sehr dynamischen“ Geschehen. Zwei Beamte hätten daraufhin von der Schusswaffe Gebrauch gemacht, berichtet die Polizei.
Nach Angaben der Pressestelle wurden insgesamt vier Schüsse aus einer Entfernung von ein bis zwei Metern abgegeben. Mehrere Projektile trafen die Münchnerin – wie viele, ist noch unklar. Die Frau starb trotz eingeleiteter Erste-Hilfe-Maßnahmen und Behandlung durch den Rettungsdienst noch im Supermarkt. Die Tote sollte im Laufe des Dienstags obduziert werden.
Mehrere Kunden liefen aus dem Supermarkt. „Die Leute waren im Schock, einige weinten“, schildert ein Anwohner aus der Alramstraße, was sich kurz nach den Schüssen rund um den U-Bahnhof Implerstraße abspielte. „Wenn ich noch einkaufen hätte gehen wollen, hätte es mich auch treffen können“, sagt der Mann im Gespräch mit der SZ. Er denkt dabei auch an die benachbarte Grundschule: „Was wäre, wenn da mal jemand in die Schule rennt? Das ist sehr beunruhigend.“
Am Dienstagvormittag ist das Kamerateam vor dem Supermarkt jetzt dazu übergegangen, Passanten zu befragen. Gesehen habe sie nichts, sagt eine ältere Dame, aber am Morgen als Erstes davon gehört: „Und so etwas in unserem Sendling!“
Aus Sendling kam die Getötete nicht – laut Polizei wohnte sie im Osten von München. Sie war polizeibekannt wegen mehrerer Aggressions- und Betäubungsmitteldelikte. Wegen psychischer Probleme war sie außerdem dreimal in der forensischen Psychiatrie untergebracht. Weil alles so schnell ging, waren diese Hintergründe, so Polizeisprecher Andreas Franken, den eingesetzten Beamten nicht bekannt, als sie auf die Frau trafen. Sie waren auch nicht, anders als Beamte des Spezialeinsatzkommandos, mit spezieller Ausrüstung für solche Einsätze ausgestattet, etwa Kettenhemden und Elektroschocker. Deshalb forderte die Deutsche Polizeigewerkschaft Bayern am Dienstag ein Distanz-Elektro-Impuls-Gerät (DEIG), auch Taser genannt, für jede Streifenwagenbesatzung. „Der Taser hat sich in einem Pilotversuch als guter Lückenschluss zwischen Pfefferspray und Dienstwaffe gezeigt“, so Jürgen Köhnlein, bayerischer Landesvorsitzender der Gewerkschaft. „Deshalb ist es an der Zeit, dass dieser nicht nur für SEK- und USK-Einheiten sowie geschlossene Einheiten zur Verfügung steht, sondern eben in jedem Streifenwagen im Freistaat einer vorhanden ist.“
Das für Tötungsdelikte zuständige Kommissariat 11, die sogenannte Mordkommission, hat den Fall inzwischen übernommen. Die Spurensicherung und das Institut für Rechtsmedizin wurden hinzugezogen. Die polizeilichen Maßnahmen dauerten nach Augenzeugenberichten bis weit nach Mitternacht. Mehrere Zeugen konnten nach Polizeiangaben bereits vernommen werden. Es gibt auch Videoaufzeichnungen aus dem Penny-Markt. Das Unternehmen Penny hat der Polizei mitgeteilt, dass noch nicht klar sei, wann der Markt wieder geöffnet werde.
Wann die Polizei Schusswaffen gegen Personen einsetzen darf
Die Videos aus dem Markt werden sich auch die internen Ermittler des bayerischen Landeskriminalamts (LKA) anschauen. Das passiert immer, wenn Polizisten im Einsatz Schüsse abgeben. Dabei gehe es darum, zusammen mit der Staatsanwaltschaft die Rechtmäßigkeit des Schusswaffengebrauchs zu prüfen, sagte ein LKA-Sprecher am Montagabend.
Das Bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG) regelt den „Schusswaffengebrauch gegen Personen“ in Artikel 84. Wenn – wie im Fall aus der Implerstraße – auf der Gegenseite keine Schusswaffen oder gar Sprengstoff im Spiel ist, dürfen Polizistinnen und Polizisten ihre eigenen Schusswaffen gegen Personen nur einsetzen, „um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren“.
In derartigen Fällen werden dann interne Ermittler des Landeskriminalamts eingeschaltet. Sie müssen prüfen, ob ein Anfangsverdacht für ein Fehlverhalten oder gar eine Straftat vorliegt. Die Ermittler befragen die beteiligten Polizistinnen und Polizisten ebenso wie Zeugen. Sie werten Schussgutachten aus und legen die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft vor. Jeder einzelne Schuss wird untersucht und bewertet. Polizeisprecher Franken sagte dazu, Polizisten wüssten, dass Angriffe mit einem noch so kleinen Messer „geeignet sind, tödliche Verletzungen zu verursachen“. Deshalb sei es bei der Situation im Supermarkt für die Beamten darum gegangen, „einen Angriff auf Leib und Leben zu stoppen“.
Die Polizisten seien noch am Montagabend von ihren Dienststellenleitern betreut worden. Außerdem stünden ihnen die psychosozialen Dienste bis hin zur Polizeiseelsorge zur Verfügung. „Denn eins ist klar“, sagt Andreas Franken: „Das steckt niemand so leicht weg.“