Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingsherbst in München:Gemeinsam gegen die Angst

Noch heute engagieren sich Tausende Münchner für Asylsuchende. Vor fünf Jahren machten sie das Bild von der weltoffenen, freundlichen Stadt erst möglich.

Von Thomas Anlauf

Der Königsplatz ist ein Meer aus Menschen. 24 000 drängen sich vor der großen Bühne, die von zwei riesigen Transparenten eingerahmt ist. "Danke!", steht darauf und darunter in leuchtendem Orange: "Wir. Stimmen für Geflüchtete". Die auf dem Platz, das sind Tausende Helfer, die ehrenamtlich oder auch in Ausübung ihres Berufs in jenen Wochen im September und Oktober 2015 oftmals Tag und Nacht am Münchner Hauptbahnhof stehen und Wasser, Decken, Windeln, Schlafsäcke verteilten. Polizisten, die Tausende Menschen aus überfüllten Zügen mit einem Lächeln begrüßten und sie freundlich zu den Sanitätszelten vor dem Starnberger Flügelbahnhof schicken. Da sind Aberhunderte aus Flüchtlingsorganisationen, aus dem Jugendamt und dem Kreisjugendring, Ärzte, Krankenpfleger, Feuerwehrleute.

Viele von ihnen - und es sind längst nicht alle - stehen nun an jenem 11. Oktober gemeinsam mit Geflüchteten auf dem Königsplatz. Oberbürgermeister Dieter Reiter steht oben auf der Bühne zwischen den Musikern von Dreiviertelblut und ruft sichtlich bewegt "Danke, München!". So eine große Bühne hat der SPD-Politiker auch nur selten, zumal auch noch die Sportfreunde Stiller und sogar Herbert Grönemeyer für die Tausenden Helfer in jenem Flüchtlingsherbst auftreten - ohne Gage, aber mit einer Botschaft: München ist in diesen Monaten weltoffen und nimmt die Geflüchteten, die ankommen, freundlich auf, auch wenn es nicht immer einfach ist.

Einer, der damals auch auf der Bühne am Königsplatz steht, ist Matthias Weinzierl. Er ruft den 24 000 Menschen und all denen, die das Danke-Konzert im Fernsehen live erleben, zu: "Hört bitte nicht auf die, die versuchen, uns Angst zu machen." Die Ankommenden seien "keine Bedrohung für unsere Gesellschaft, sondern eine Chance". Bis heute sieht das der ehemalige Geschäftsführer des Bayerischen Flüchtlingsrat so, der 2015 mit Till Hofmann, Grisi Ganzer und vielen anderen das Sozial- und Wohnprojekt "Bellevue di Monaco" an der Müllerstraße aufgebaut hat.

Weinzierl hat damals viel organisiert, es entstanden die Hausaufgabenbetreuung, Fahrradworkshops für Geflüchtete, Sprechstunden speziell für Frauen und das Café, die meisten Angebote werden von Ehrenamtlichen betreut. "Die Münchner sind unglaublich hilfsbereit", sagt der Grafiker. Ob bei der Sanierung der drei Häuser an der Müllerstraße, bei Sammelaktionen für Geflüchtete in Griechenland oder beim Sprachkurs: Die Verantwortlichen des Bellevue die Monaco können sich auf ihre Helfer und die Freiwilligen verlassen.

Diese Münchner Hilfskultur hat sich bis jetzt bewahrt und bewährt. Eine von den vielen Helferinnen und Helfern in München ist Serena Widmann. Sie steht an diesem Montag wie so oft auf dem Gelände der Bayernkaserne im "Lighthouse Welcome Center". Es ist eine kleine Hütte, gelb und weiß angestrichen und wurde für viele Geflüchtete zum Symbol der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. "Es ist ein Ort, der wichtig ist für Leute, die gerade ankommen", sagt Serena Widmann. Gerade feiern die Initiatoren und Betreiber der Willkommenshütte, der Verein Lichterkette und die Innere Mission, offiziell fünfjähriges Bestehen des Lighthouse.

Genau genommen gibt es das Häuschen zwar schon seit Dezember 2014. Doch die Idee, Menschen, die gerade nach ihrer Flucht in den Unterkünften angekommen sind, bei einer kostenlosen Tasse Tee oder Kaffee ein Lächeln zu schenken und Tipps für das Leben in der neuen Heimat zu geben, entwickelte sich ein paar Monate später zum wichtigen Anker in der Flüchtlingshilfe. Damals, im Herbst 2015, als Zehntausende nach München kamen, war es dort "immer voll und wahnsinnig quirlig. Man hatte das Gefühl, dass man gebraucht wird", sagt Serena Widmann. Sie hatte zuvor schon auf dem Gelände der ehemaligen Bayernkaserne ein Frauencafé eröffnet. Doch vor fünf Jahren wurde plötzlich an der Info- und Willkommenshütte "jeder gebraucht".

Serena Widmann, die mit ihrem Mann einen Handwerksbetrieb im Münchner Norden hat, engagiert sich wie viele andere Menschen noch heute im Lighthouse. Etwa 200 Ehrenamtliche seien es noch immer, auch wenn die Zahl der Menschen, die neu in München ankommen, seit dem Flüchtlingsherbst vor fünf Jahren stark zurückgegangen sind. Die Aufgaben und Herausforderungen haben sich seither geändert. Ging es zunächst darum, Menschen beim Ankommen zu helfen und ihnen ein wenig Freundlichkeit zu geben, um deren Angst abzubauen, wie Serena Widmann sagt, stehen diejenigen, die bleiben konnten, vor ganz anderen Herausforderungen. Sie suchen dringend Wohnungen, viele von ihnen müssen notgedrungen noch immer in den Unterkünften bleiben, weil sie keine eigenen vier Wände finden. In einem Fall konnte Serena Widmann ganz direkt bei dem Wohnungsproblem helfen: Sie hat einem Pärchen, das sie am Lighthouse kennengelernt hatte, schließlich eine Wohnung in ihrem Haus vermietet.

Es ist genau das, was der ehemalige Generalvikar im Erzbistum München und Freising, Peter Beer, im Flüchtlingsherbst 2015 ebenso betonte wie Münchner Politiker damals: "Wir stehen nicht am Ende, sondern erst am Anfang. Und wir machen nicht nur einen Sprint, sondern einen Marathonlauf." Viele ehrenamtliche Helfer sind diesen Marathon, Tausende ehemalige Geflüchtete zu begleiten und zu integrieren, bis heute mitgelaufen. Auch wenn Sozialexperten sagen, dass der harte Kern der Helfer sich über die Jahre von einst etwa 4000 Menschen um die Hälfte reduziert hat. Einige wendeten sich frustriert hab, nachdem viele Asylsuchenden abgeschoben worden waren. Andere wie der Verein "Münchner Freiwillige - wir helfen", "Save me" und viele weitere arbeiten seit Jahren gut strukturiert mit Ehrenamtlichen im Flüchtlingsbereich. Im Herbst 2015 gingen Mitarbeiter der Sozialverbände früh auf die ehrenamtlichen Organisatoren am Hauptbahnhof, am Zentralen Busbahnhof und in ersten Lagern zu und boten an, deren Arbeit logistisch zu unterstützen. Daraus entstanden Hilfsstrukturen, die bis heute anhalten.

Und es entstanden auch besondere Begegnungen und Freundschaften zwischen den Helfern und den neu Angekommenen. Kürzlich saß Serena Widmann im Wartezimmer ihres Zahnarztes, da grinste sie ein anderer Patient an und sagte: "Du bist die Serena. Du warst damals der erste Mensch, der mich angelächelt hat."

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Quelle:
SZ vom 01.09.2020/kafe
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