München:Flüchtlingshelferin: "Kinder haben das Gefühl, sie müssten für ihre Eltern sorgen"

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Eine syrische Familie kommt am Münchner Hauptbahnhof an. Viele Flüchtlinge haben vor ihrer Flucht Grausames erlebt. (Foto: dpa)

Shqipe Krasniqi hört bei ihrer Arbeit Geschichten von Vergewaltigungen und Verletzungen. Aber die Therapeutin erlebt auch, welche Kräfte Flüchtlinge freisetzen können.

Interview von Inga Rahmsdorf

Die Kinder- und Jugendtherapeutin Shqipe Krasniqi arbeitet seit 16 Jahren bei Refugio, dem Münchner Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer, das auch vom SZ-Adventskalender unterstützt wird.

SZ: Die Zahl der Menschen, die nach Europa fliehen, steigt. Wie macht sich das bei Ihrer Arbeit bemerkbar?

Shqipe Krasniqi: Die Kinder und Jugendlichen haben oft sehr lange Fluchtwege hinter sich und sind stärker belastet als früher. Sie waren viel zu lange in Syrien, haben dort viel im Krieg gesehen. Dann waren sie lange unterwegs, haben lange in Lagern gelebt. Es bleibt ihnen leider nicht viel erspart. Bei vielen afghanischen Kindern beginnt die Traumatisierung schon im Mutterleib, wenn der Vater zum Beispiel bei einer Autoexplosion ums Leben gekommen ist. Wenn sie über ihre Erlebnisse sprechen, darüber, dass eine Rakete im Hof explodiert ist, als dort gerade drei Kinder spielten, die in Stücke gerissen wurden, dann erzählen sie das, als wäre es etwas ganz Normales.

Wie gut sind die Chancen, dass Sie den Kindern mit einer Therapie helfen können?

Sie bringen ganz viele Ressourcen mit und man kann gut mit ihnen arbeiten. Ein Mädchen habe ich als Krisenfall im Alter von 16 Jahren übernommen. Sie ist alleine gekommen, konnte nicht sitzen, hat nur geweint, hat sich die Frage gestellt, ob sie verrückt sei, weil sie ständig Albträume hat, weil sie nicht zur Ruhe kommt. Mittlerweile hat sie die Erfahrungen gut verarbeitet. Sie macht jetzt die mittlere Schulreife. Ich bin selbst immer wieder erstaunt, was man erreichen kann, wenn die Kinder in gute Strukturen aufgenommen werden.

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Was bedeutet die Flucht für die Kinder und Jugendlichen, die alleine kommen?

Sie haben überlebt, haben unterwegs funktioniert. Gerade wenn sie dann hier zur Ruhe kommen, fragen sie sich, warum hat meine Familie mich weggeschickt. Dann geht es auch in der Therapie darum zu reflektieren, dass die Familie das Kind schützen wollte. Für die Kinder ist der Gedanke aber unerträglich: Meine Familie hat mich geschickt, aber eigentlich wollte ich gar nicht kommen.

Und Kinder, die mit ihren Eltern fliehen?

Die Kinder haben immer das Gefühl, sie müssten für ihre Eltern sorgen. Für sie übersetzen, weil sie schneller darin sind, die Sprache zu erlernen. Es findet ein Rollenwechsel statt. Die Kinder werden zu ärztlichen Behandlungen mitgenommen. Und manche Kinder behalten die Diagnose dann für sich, weil sie ihre Eltern nicht belasten wollen. Bei den Kindern entsteht häufig so eine Hilflosigkeit: Ich muss meiner Familie helfen, sonst werden wir wieder abgeschoben.

Was bedeutet es für die Kinder, wenn ihre Eltern traumatisiert sind?

Manche Eltern gehen sehr reflektiert damit um. Sie wollen ihre Kinder nicht belasten, wollen nicht darüber reden. Wir machen auch viel Elternarbeit. Wenn ein Kind wissen will, wie das war, dann ist es wichtig, dass man es kindgerecht erklärt. Vielleicht nicht detailliert, wie die Mutter mitgenommen und vergewaltigt wurde, aber schon, dass die Familie schlimme Erlebnisse durchgemacht hat.

Stoßen Sie bei Ihrer Arbeit auch an die eigenen Grenzen?

Wenn eine Familie erzählt, dass ihre Mädchen unterwegs entführt worden sind, dann bin ich in dem Moment auch hilflos. Dann sage ich, dass die Mädchen jetzt in Gottes Händen sind, weil ich selbst nicht weiß, wie man helfen kann.

Sind Schuldgefühle in den Gesprächen ein großes Thema?

Ja, sehr oft. Gerade bei jungen Mädchen, die missbraucht worden sind. Sie haben Schuldgefühle, dass sie vergewaltigt wurden, weil sie die falsche Kleidung trugen. Kinder haben auch Schuldgefühle gegenüber den Eltern, dass sie nicht da waren, als die Eltern Gewalt erleiden mussten. Umgekehrt haben Eltern oft Schuldgefühle gegenüber ihren Kindern, dass sie keine guten Eltern sind. Hier erfahren sie: Das, was ich in meiner Heimat gelernt habe, was eine gute Mutter ausmacht, das zählt nicht. Hier wird etwas ganz anderes erwartet.

Wie helfen Sie den Eltern?

In unserem Elterntraining geht es viel darum: Wie bin ich eine gute Mutter, ein guter Vater? Was kann ich machen, wenn mein Kind Albträume hat? Und auch: Was erwartet die Gesellschaft von mir? Zum Beispiel: Wenn sie lange gehungert haben, dann wollen sie ihrem Kind jetzt Gutes tun und geben ihm Süßigkeiten mit in die Schule. Das kommt hier aber nicht gut an.

Shqipe Krasniqi betreut bei Refugio minderjährige Flüchtlinge. (Foto: Florian Peljak)

Wird die Arbeit erschwert durch ein unterschiedliches Verständnis von psychischen Erkrankungen?

Ja, in den Ländern, aus denen unsere Klienten kommen, gibt es keine Therapien. Es gibt meist nur Psychiatrien, aber viele denken, dass da nur Verrückte hingehen. Häufig werden die in den Ländern auch nicht gebraucht, weil der Familienzusammenhalt sehr eng ist. Aber wenn sie ganz alleine herkommen und hier niemanden haben, mit dem sie reden können, dann versuchen wir zu erklären, was Therapie bedeutet. Sie merken dann schnell, dass es um ganz alltägliche Sachen geht, um Lern- und Schulprobleme, um Konzentrationsschwierigkeiten.

Was ist wichtig für eine gute Integration?

Dass die Menschen nicht jahrelang im Heim sind und nichts lernen. Dass sie sich sehr schnell mit der deutschen Sprache auseinandersetzen, mit den deutschen Regeln. Ich finde es faszinierend, wie schnell Menschen lernen, wenn sie zur Ruhe kommen. Aber die Wohnsituation ist dafür entscheidend. Wir haben einen Jungen in Therapie, er ist zehn Jahre alt und spricht ausgezeichnet Deutsch. Er ist allein ins Wohnungsamt gegangen, hat versucht mit dem Bürgermeister zu reden, weil er eine Wohnung für seine Mutter, seine Schwestern und sich sucht. Sie wohnen seit zwei Jahren in einer Gemeinschaftsunterkunft. Sie haben keine Aufenthaltsgenehmigung. Er ist so verzweifelt, dass er sich umbringen wollte. Er braucht Ruhe und eine Rückzugsmöglichkeit, aber das ist schwierig in einem Raum mit der Mutter, die ununterbrochen weint, weil sie depressiv ist.

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Keiner, der geflüchtet ist, will mit den Taliban zu tun haben. Wir sollten ihnen ein anderes Leben bieten. Und das können wir am besten, wenn wir ihnen den Zugang zur Schule öffnen. Und den älteren Menschen ermöglichen, dass sie schnell ins Berufsleben einsteigen können. Egal aus welcher Kultur Menschen kommen, sie sind fähig, sich anzupassen und Neues aufzunehmen. Es gibt viel Leid und viele Erlebnisse, die die Menschen mitbringen, aber je besser die Lebensbedingungen sind, desto besser können die Leute sie verarbeiten und integriert werden.

Welche Rolle spielt die Religion dabei?

Ich erlebe viele Jugendliche aus Afghanistan, die nach einiger Zeit in der Therapie ganz neue Perspektiven entwickeln. Einige dachten anfangs, alle außer Muslime seien schlimme Menschen. Dann erleben sie hier etwas anderes und leben das auch selbst. Einige kommen mit dem Gedanken, dass ihre Religion sehr wichtig ist und dann bietet ihnen das Land die Chance, sich selbst zu entwickeln und in die Schule zu gehen. Dann steht die Religion nicht mehr im Vordergrund. Ein Mädchen kam vollverschleiert zu uns. Dabei war sie nicht religiös. Sie hatte 45 Brandwunden am ganzen Körper, weil sie als Siebenjährige von einer Rakete getroffen wurde. Und den Blick auf ihren Körper, den sie selbst nicht ertrug, wollte sie niemandem zumuten.

Können Sie abends abschalten?

Wenn ich nach Hause komme, spiele ich mit meinem Kind und dann kann ich gut abschalten. Es ist eine sehr belastende Arbeit, dennoch auch eine sehr schöne. Zu uns kommen Menschen, die sehr offen sind für die Hilfe. Eine Frau, die bei uns als Mädchen in Therapie war, rief an und erzählte, dass sie nun studiert. Wenn man sich anschaut, mit welcher Anfangsdiagnose sie zu uns gekommen ist, dann ist das eine sehr wertvolle Arbeit, die ich gerne mache: die Leiden zu sehen und dann Wege zu finden, damit umzugehen.

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© SZ vom 07.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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