Es sind verstörende Bilder. Kinder drängen sich zwischen primitiven Zelten um ein Lagerfeuer, Männer kauern in der Kälte des Winters im Dreck, hochschwangere Frauen stehen erschöpft in einer Schlange vor einer Arztpraxis von freiwilligen Helfern. Der Albtraum ist nur wenige Schritte von einer scheinbaren Idylle entfernt. Unten in der großen Bucht von Samos glitzert das tiefblaue ägäische Meer, von hier führen ein paar Stufen bergan, dahinter zieht sich schnurgerade ein Sträßlein den Hang hinauf.
Mit jedem Schritt nach oben kommen mehr Menschen entgegen. Kinder mit durchgelaufenen Schuhen, Männer in billigen Badelatschen, Kranke, die kaum noch gehen können vor Kälte. Oben an der großen Kreuzung neben dem Friedhof stehen ein paar Dixie-Klos, es stinkt bestialisch. Davor sitzen kleine Kinder auf spitzem Schotter am Boden. Dahinter: der Dschungel. So heißt das wilde Flüchtlingscamp neben dem eigentlichen Lager. Hunderte Zelte ducken sich unter Olivenbäumen, einfache Plastikplanen flattern im eisigen Wind und bieten den Menschen kaum Schutz vor Sturm und Regen. Auch Costas Gianacacos kennt diese Bilder, er kann sie nicht vergessen. Gianacacos sitzt im Café Philoxenos des Griechischen Hauses in München und sagt: "Das ist ein europäisches Desaster, es ist eine Tragödie."
Diese Tragödie am südöstlichen Rand Europas spitzt sich immer weiter zu. 21 720 Flüchtlinge lebten in der vergangenen Woche auf Lesbos, dabei gibt es auf der Insel nur Platz für knapp 4000 Asylsuchende. Am Ortsrand der Inselhauptstadt Samos waren am 6. Februar 7654 Menschen registriert, Schlafplätze gibt es höchstens für 950. Costas Gianacacos weiß: Die vielen Geflüchteten müssten endlich fort von den ostägäischen Inseln. Es seien unerträgliche Zustände für die Geflüchteten, aber auch für die Einwohner. "Die Stimmung dort ist an einem Kipppunkt", sagt er. Zuletzt war der Leiter des Evangelischen Migrationszentrums München im November mit einer kleinen Gruppe von Grünen-Politikern an den griechischen Hotspots, auf Lesbos und bei Ioannina im Westen Griechenlands.
Warum die Stadt München nicht helfen darf
Nach seiner Rückkehr rief ihn Sozialreferentin Dorothee Schiwy an und bat ihn, am nächsten Tag im Münchner Stadtrat von seinen Eindrücken zu berichten. Denn der Stadtrat will helfen: Nachdem sich München bereits im vergangenen Juli zum "Sicheren Hafen" erklärt hat und in Seenot geratene Flüchtlinge freiwillig aufnehmen will, sollen auch möglichst bald Kinder und Jugendliche, die auf den ostägäischen Inseln hausen müssen, nach Bayern geholt werden. Doch nach jetzigem Stand darf der Stadtrat nicht helfen: Ende Januar hat der Bundestag entschieden, keine Flüchtlinge aufzunehmen - unabhängig vom Angebot aus München und mehr als hundert anderen Städten.
In einer Woche wird dennoch eine Delegation von drei Münchner Stadträten mit Sozialreferentin Dorothee Schiwy, Gerhard Mayer, dem Leiter des Amts für Wohnen und Migration, sowie zwei Ärztinnen in Krisengebiete in Griechenland fliegen. Leiter der viertägigen Reise ist Costas Gianacacos.
Der ehemalige SPD-Stadtrat hat ganz bewusst Ziele für die Exkursion ausgewählt, die nicht in der Ostägäis liegen. Denn dort sei zwar dringend Hilfe nötig, doch ein humanitäres Engagement in Griechenland soll für München langfristig und nachhaltig sein. Seit 2016 reist Gianacacos in die nordgriechische Region Epirus mit seiner Hauptstadt Ioannina, bringt Hilfsgüter aus Spenden dorthin und unterstützt gemeinsam mit Archimandrit Georgios Siomos von der Griechisch-Orthodoxen Allerheiligenkirche in München verschiedene Hilfsprojekte in der Region. So gibt es dort eine Sozialapotheke, die medizinisches Material und Medikamente an Geflüchtete, aber auch an Krankenhäuser oder Altenheime verteilt. Die Delegation wird unter anderem auch ein Flüchtlingscamp und eine Unterkunft für Asylbewerber besuchen und sich ein Bild von der Lage vor Ort machen.
Der Stadtrat hatte Mitte Dezember beschlossen, dass die Landeshauptstadt auch eine Patenschaft für ein griechisches Flüchtlingslager übernehmen wird. Mit der Reise solle diese vorbereitet werden, teilte Sozialreferentin Schiwy am Freitag mit. "Insbesondere sollen die Möglichkeiten ausgelotet werden, welche Formen der Hilfestellung im Rahmen dieser Patenschaft geleistet werden können." Denn für eine Kommune ist es rechtlich nicht einfach, Einrichtungen oder Projekte im Ausland zu unterstützen, die offiziell nichts mit den eigentlichen Aufgaben der Stadt zu tun haben. "Das ist eine Hürde", sagt Gianacacos, "aber wir sind dort in einer dramatischen Situation, in der wir als Kommune eingreifen wollen."
Die Unterstützung könnte es möglicherweise über freie Wohlfahrtsverbände oder das städtische Programm der Rückkehrhilfen geben, das seit mehr als zwei Jahrzehnten Projekte in anderen Ländern organisiert. Den nach Griechenland mitreisenden Münchner Ärztinnen könnte ebenfalls eine wichtige Rolle zukommen. Gianacacos kann sich vorstellen, dass es zu einer Partnerschaft zwischen der städtischen München Klinik und griechischen Krankenhäusern kommen könnte. Auch Hilfslieferungen aus München sind im Gespräch.
Hier könnte die Münchner Hilfsorganisation "Heimatstern" eine Schlüsselrolle spielen. Seit mehr als vier Jahren organisieren der IT-Fachmann Tilman Haerdle, seine Frau Petra Lehmann und ein kleines Team von einer Baracke auf dem Gelände der Bayernkaserne aus Hilfstransporte entlang der Balkanroute und vor allem nach Griechenland. Erst im Januar fuhr ein Lkw mit sieben Tonnen Hilfsgütern, darunter zahlreiche Computer, neue Kleidung, Schlafsäcke, Zelte, Schulmaterial, Windeln, Nähmaschinen und Stoffe in Richtung Athen sowie auf die Inseln Samos und Lesbos. "Heimatstern" arbeitet seit Jahren mit einer Spedition zusammen. "Das ist definitiv die günstigere Lösung, als selbst zu fahren", sagt Petra Lehmann, die täglich in dem großen Lager zwischen Kisten sitzt, die für den nächsten Transport vorbereitet werden. "Wir stehen in ständigem Kontakt mit Organisationen vor Ort, teils griechischen, teils internationalen", sagt Haerdle.
Dabei unterstützt "Heimatstern" ausschließlich Projekte, die Bedürftigen an den Hotspots helfen. So brachte der Verein etwa ein Ultraschallgerät zum Krankenhaus auf Samos, weil es dort noch dringender benötigt wurde als bei einer befreundeten Hilfsorganisation. Es sei wichtig, die lokale Bevölkerung mit einzubeziehen, so Haerdle. Denn die Einheimischen seien mittlerweile überfordert von den vielen Geflüchteten und fühlten sich von der Regierung und Europa im Stich gelassen.
"Es ist sehr schwierig für uns und für die Flüchtlinge", sagt die junge Griechin Eftychia, die in einer kleinen Taverne in Samos sitzt. Sie ist hochschwanger und erwartet in drei Wochen ihr zweites Kind. Es gebe jetzt im Winter kaum Arbeit auf der Insel und die Menschen werden krank vor Kälte, sagt Eftychia. "Holt wenigstens diese Kinder hier raus."