"Jeder Mensch ist heilig, egal, ob Mann oder Frau, dunkel oder hell - es ist ein Skandal, was im Mittelmeer passiert!" In selten eindringlichen Worten begleitet Kardinal Reinhard Marx am Samstag eine Mahnwache ziviler Seenotretter und Flüchtlingshelfer am Münchner Liebfrauendom. Beim ökumenischen Gottesdienst im Dom brandet spontan lauter Beifall auf, als Marx die Politik in vehementem, ja beinahe zornigem Ton an die Tausenden von Toten auf der gefährlichsten Fluchtroute der Welt erinnert: " Das sind die Prüfsteine des christlichen Abendlandes!"
Während sich draußen, am Fuß eines der Frauentürme rund 30 Flüchtlingshelfer und Seenotretter ins Zeug legen, um über die Toten des Mittelmeers zu informieren und ein echtes Flüchtlings-Schlauchboot gegen Sturmböen zu sichern, werden im Dom bei leisen Orgeltönen die Namen von Toten verlesen. Datum, Name, Alter. Meist junge Menschen. Allein in den vergangenen fünf Jahren ertranken mehr als 18 000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer, die Internationale Organisation für Migration (IOM) registriert sie namentlich, soweit möglich.

Dass draußen am Dom der Sturmwind tost, kümmert die ganzen Seefahrer wenig. Claus-Peter Reisch, Skipper der Lifeline, juristisch schikanierter Seenotretter, dessen Schiff immer wieder auf Malta festgesetzt wurde, nagelt kleine Holzkreuze mit Namen Ertrunkener zusammen. Sie werden gegen Spenden verkauft. Friedrich Reich, stellvertretender Vorsitzender der Organisation "Resqship" (sprich: rescue-ship) steht in Hemd und Pulli mit Passanten beisammen und muss gemeinsam mit Gorden Isler, dem Vorsitzenden der Regensburger Seenotretter von Sea-Eye, immer wieder auch die Frage beantworten, wie man aktiv mithelfen könne. "Einfach auf unserer Homepage auf den Button ,mitmachen' gehen, ob mit oder ohne nautische Kenntnisse", sagen die see-erprobten Organisatoren. Sie können Unterstützer brauchen - und sie benötigen Spendengeld.
Seenotrettung unter deutscher Flagge kostet: Acht Mann für die nautische Crew seien erforderlich, so Isler, und die alten Schiffe seien reparaturintensiv, ergänzt der Starnberger Architekturprofessor Sampo Widmann, der ehrenamtlich als Kapitän ein Segel-Suchschiff vor der libyschen Küste für Resqship steuert. Dass diese Rettungseinsätze "schikaniert, blockiert" und sogar kriminalisiert werden, hält er in jeder Hinsicht für unerträglich. "Du kannst im Prinzip nur noch weinen." Er kämpft trotzdem dagegen an.

"Als normaler Mensch kann man nicht zuschauen bei dieser Katastrophe", sagt auch sein Kollege Friedrich Reich und ist froh, dass es nach einem vollen Jahr der Vorbereitung nun endlich zu dieser ökumenischen Großaktion in München gekommen ist. Dort holen sich nicht nur Flüchtlingshelfer wie Elvira Bittner aus München oder Helmut Fischer aus Weilheim neuen Mut, und dort versucht nicht nur Silvia De Biasio darüber hinwegzukommen, dass ihre eigene italienische Regierung wider alle humanitäre Vernunft handelt. Dort schaut auch Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) vorbei - und lobt ausdrücklich den Einsatz der Kirchen. Nicht nur den der evangelischen Kirche, die inzwischen selbst zwei Rettungsboote im Mittelmeer unterstützt. Sondern gerade auch den Münchner Erzbischof.
"Dass sich Kardinal Marx so stark positioniert, ist sehr gut, er ist ja nicht irgendwer hier in Deutschland". Dass ohne die Privatinitiativen gar niemand mehr im Mittelmeer retten würde, sei "ein humanitärer Skandal - hier sterben auch unsere europäischen Werte", sagt Roth. Interessanterweise decken sich ihre Thesen und Forderungen ziemlich genau mit dem, was dann auch drinnen im Liebfrauendom am Altar gepredigt wird.
Denn um ein Zeichen zu setzen gegen dieses humanitäre Versagen Europas und wohl auch, um den zivilen Seenotretterinnen und -rettern Respekt für deren mutige und gefährliche Arbeit zu zollen, zelebrieren im Dom Kirchenrepräsentanten der katholischen, evangelischen, der griechisch-orthodoxen sowie der islamischen Gemeinde einen eindrucksvollen Gottesdienst für die Toten im Mittelmeer. Kardinal Reinhard Marx und der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm predigen im Dialog, Bischof Vasilios von Aristi, Vikarbischof der griechisch-orthodoxen Metropolie Deutschland, und Imam Benjamin Idriz aus Penzberg steuern Texte bei.
"Wie sollen wir leben im Angesicht von so viel Leid?", fragt Landesbischof Bedford-Strohm. "Es ist gut, dass wir Allianzen der Humanität bilden", ergänzt er und verteidigt damit auch die Allianz der evangelischen Kirche mit den zivilen Seenotrettern, die gegenwärtig als einzige im Mittelmeer Menschen retteten. Das entspreche "zutiefst dem Willen unseres Herren Jesus Christus. In ihm ist Gott selbst Mensch geworden und hat dem Menschen damit eine Würde gegeben, die mit nichts aufzuwiegen ist."

Kardinal Marx richtet klare, laute Worte an die europäische Politik und fordert fünf "schlichte und einfache Prinzipien" ein: "An unseren europäischen Außengrenzen kommt niemand zu Tode. Jeder, der an die Grenze kommt, wird menschenwürdig behandelt. Jeder Asylsuchende bekommt ein faires Verfahren. Niemand wird zurückgeschickt, wo Tod und Verderben drohen. Und wir tun alles in den Herkunftsländern der Migranten, dass dort Perspektiven für die Menschen sind."
Um das zu bewerkstelligen, muss die Politik agieren, sagt Claudia Roth. "Es braucht faire Verteil-Mechanismen" für die Flüchtlinge, und wenn sich schon 120 deutsche Kommunen im Zuge der "Initiative sichere Häfen" bereit erklärt hätten, Gerettete aus dem Mittelmeer aufzunehmen, dann solle das Bundesinnenministerium das doch endlich auch so genehmigen. Wie sie sich überhaupt nach der Mahnwache wünsche, dass "noch mehr Bundestagsabgeordnete" auf das achteten und hörten, was Reinhard Marx als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz da einfordere. Außerdem sei es natürlich ein Unding, dass Seenotretter kriminalisiert würden. Wobei sie das im Gespräch mit aktiven Seenotrettern auch noch stärker ausdrückt: Richtiger "Bullshit" sei das.
Da wird sie ähnlich zornig wie Marx. Wenn man die Totenklage der Kirchenvertreter und die Mahnungen der aktiven Seenotretter gehört hat, möchte man es heiligen Zorn nennen.
Hinweis: In einer vorherigen Fassung haben wir den Sitz der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye irrtümlich nach Hamburg verlegt, der Vorsitzende Gorden Isler ist Hamburger, Sitz der Organisation ist Regensburg.