Ellen-Ammann-Preis:Sicherheit für die Schutzlosen

Ellen-Ammann-Preis: Jana Weidhaase hat jahrelang in Flüchtlingsunterkünften gearbeitet. Was sie dort gesehen hat, hat sie dazu bewegt, sich für den Schutz von Frauen und Kindern einzusetzen.

Jana Weidhaase hat jahrelang in Flüchtlingsunterkünften gearbeitet. Was sie dort gesehen hat, hat sie dazu bewegt, sich für den Schutz von Frauen und Kindern einzusetzen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Geflüchtete Frauen und Kinder sind in Massenunterkünften großen Gefahren ausgesetzt. Jana Weidhaase will sie vor Übergriffen bewahren - ihr Projekt ist nun ausgezeichnet worden.

Von Julia Bergmann

Was Jana Weidhaase nicht mehr losgelassen hat, ist, dass es gleich zweimal passiert ist. Erst die sexuelle Belästigung, dann die Vergewaltigung. Das Opfer: das behinderte Kind einer geflüchteten Familie in einer Asylbewerberunterkunft. Dort hat Weidhaase vor einigen Jahren als Sozialpädagogin gearbeitet. Das Kind, schutzlos, in einem unbeobachteten Moment von Bewohnern des Heims missbraucht. Die Erfahrung der Familie: kein Einzelfall, wie die 36-Jährige heute weiß.

"Massenunterkünfte sind allein durch ihre Struktur gewaltfördernd", sagt sie. Das gelte für jede Art von Gewalt, nicht nur für sexualisierte. Weil sie Kinder und Frauen in Sammelunterkünften besser schützen will, hat sie das Projekt "We Talk - Women fight violence" ins Leben gerufen. Ziel ist es, Frauen besser zu vernetzen und über ihre Rechte aufzuklären. Dafür hat sie am Montag als Drittplatzierte den Ellen-Ammann-Preis des Katholischen Deutschen Frauenbunds erhalten. Mit ihm werden Menschen ausgezeichnet, die neue Wege gehen, um die Lebensumstände von Frauen zu verbessern.

Weidhaases Projekt ist beim Bayerischen Flüchtlingsrat angesiedelt, dort arbeitet sie seit 2016. Die Idee hinter "We talk - Women fight violence": Zehn Tandems, bestehend aus jeweils zwei Frauen, kümmern sich am jeweiligen Wohnort um Frauen und Kinder in Asylsammelunterkünften. Von den beiden Frauen hat eine jeweils selbst Fluchterfahrung. Die Frauen wüssten, wo Hilfe am besten ansetzen könne. "Wer das selbst erlebt hat, weiß genau, welche Sorgen und Nöte die Betroffenen haben", sagt Weidhaase.

Einfühlen könne sich jemand ohne Fluchterfahrung auch. Aber er werde nie ganz verstehen, was es bedeutet, in dieser Situation zu leben. Gemeinsam mit Hunderten Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, teils ohne Bleibeperspektive, ohne Arbeitserlaubnis, zum Warten und Nichtstun verdammt. Dazu kommt: In den Unterkünften gibt es nicht viel Privatsphäre, nicht einmal die Möglichkeit, das eigenes Zimmer abzuschließen.

Weidhaase hat während ihrer Berufsjahre vieles gesehen. Vieles, was sie aufgerüttelt und dazu gebracht hat, das Projekt anzuschieben. "Wenn ich Ungerechtigkeit in der Welt sehe, treibt mich das an, aktiv zu werden", sagt sie. Im Kleinen wie im Großen. Ob es um die Gründung eines Repair-Cafés, das Verzichten auf Fleischkonsum oder Flugreisen gehe. Weidhaase ist der Typ Mensch, der macht. Weil sie sicher ist, dass auch große Veränderungen im Kleinen anfangen. Dazu kommt ihr ausgeprägte Gerechtigkeitssinn. "Schon als Kind. Wenn jemand ausgeschlossen wurde, ist mir das aufgefallen", sagt sie.

Nach ihrem Abitur ist Weidhaase zunächst als Au-pair in die USA gegangen. "Ich habe überlegt, was ich mit meinem Leben machen will." Die Antwort war schnell gefunden: soziale Arbeit, das passte zu ihr. Schon während des Studiums absolvierte sie ein Praktikum in einer Flüchtlingsunterkunft. Der erste Job in Dublin in einer Aufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge folgte. Später, zurück in Deutschland, arbeitete sie weiter in verschiedenen Heimen für Geflüchtete und in der Asylsozialberatung, bis sie zum Bayerischen Flüchtlingsrat kam.

Die Arbeit mit den Geflüchteten hat sie nie losgelassen. "Ich habe das immer mit ganzem Herzen gemacht." Umso schmerzhafter die Erfahrung, dass es nicht für alle Probleme schnelle Lösungen gibt. Die Familie des Kindes, das gleich zweimal Opfer von sexualisierter Gewalt wurde: "Eigentlich ist das eine Erfahrung, nach der man die Frau und ihr Kind sofort aus der Unterkunft herausholen möchte." So ein Prozess dauere aber Monate. Wenn die Sozialpäda-gogin heute davon spricht, bemerkt man immer noch den Schmerz von einst. Der bürokratische Aufwand ist hoch, die Bearbeitungszeit lang, es braucht Atteste, Anzeigen bei der Polizei, einen ganzen Haufen an Dokumentation. Weidhaase sitzt in ihrem Büro, schüttelt den Kopf, gestikuliert leidenschaftlich, als könne sie auch nach Jahren im Job nicht glauben, dass das so ist.

Wie Frauen Kontakte knüpfen können

Die Tandems, die Weidhaase gemeinsam mit ihren Kollegen in ganz Bayern etablieren will, sollen das ändern. Sie sollen bei den drei großen Problemen ansetzen, die sie in den Unterkünften immer wieder beobachten konnte. Das erste sei, dass die Frauen und Kinder in der fremden Umgebung schlichtweg nicht wüssten, an wen sie sich wenden müssen. Die ehrenamtlichen Helferinnen kennen die Anlaufstellen. Das zweite große Problem: Gewalt ist immer noch ein Tabuthema. Und das dritte: die Isolation in den Heimen.

"Auch Männern geht es in Gemeinschaftsunterkünften nicht gut, aber gerade Frauen sind noch stärker isoliert", sagt Weidhaase. In vielen Kulturen seien es die Männer, die nach draußen gehen, offizielle Angelegenheiten regelten. Auch in der offenen Beratung seien es eher die Männer, die kommen. Es gehe dann meist um die "hard facts": Gesetzeslage, Rechte, Ansprüche. Die Frauen übernehmen hingegen die häuslichen Aufgaben: kochen, Haushalt, für die Kinder sorgen. Dazu kommt: Viele der Männer haben in ihren Heimatländern die bessere Bildung genossen. Wenn jemand gelernt habe, englisch zu sprechen, sei das eher der Mann als die Frau. So falle es Männern leichter, Kontakte auch im fremden Land zu knüpfen - aus der Isolation auszubrechen. Gerade deswegen liegt es Weidhaase am Herzen, dass sich die Frauen über ihr Projekt vernetzen können.

Was genau die insgesamt zehn bisher eingerichteten Tandems an ihren Standorten anbieten, richtet sich danach, welche Strukturen dort bisher noch fehlen. Die ersten Tandems haben ihre Ausbildung in sieben Workshops vor Kurzem abgeschlossen. Sie haben rechtliche Grundlagen vermittelt bekommen, gelernt, wie sich Frauen selbst verteidigen können, wie man mit Trauma und Gewalterfahrungen umgeht, wie man mit traumatisierten Kindern über ihre Erfahrungen spricht, an welche Stellen man sich wenden muss.

Entstanden sind offene Frauentreffs, eine Kinderbetreuungsgruppe, ein Sprachkurs nur für weibliche Geflüchtete. "Die Tandems sind in ganz Bayern verteilt. Der Fokus liegt auf ländlichen Regionen", sagt Weidhaase. Dort seien die Angebote speziell für geflüchtete Frauen oft selten. Ausnahmen gibt es. Eines der Tandems in der Nähe von Augsburg musste feststellen, dass es in ihrer Region schon ein breites Netz gibt. "Sie haben sich also darauf spezialisiert, diese Angebote für die Bewohnerinnen der Asylbewerberunterkünfte besser sichtbar zu machen."

Es gehe dabei nicht immer vordergründig um das Thema Gewalt oder Gewaltprävention. Das Treffen, der Austausch stehen im Vordergrund. Bei den Angeboten der Tandems handle es sich um ein niederschwelliges Angebot. "Wir wollen Menschen untereinander vernetzen, sodass Frauen selbst tätig werden können." Viele der Frauen müssten erst einmal Kontakte aufbauen, Vertrauen fassen können. Weidhaase weiß: Viele sprechen erst Jahre später über Gewalterfahrungen in den Heimen. Oft erst dann, wenn sie als Asylbewerber anerkannt wurden und das Gefühl haben, sicher zu sein.

Doch je früher sich Frauen Hilfe suchen können, desto sicherer wird für sie das Leben in den Unterkünften. Das Projekt, mit bisher zehn Tandems, sei "ein Tropfen auf dem heißen Stein", sagt Weidhaase. Aber es sei ein Anfang. "Auch die kleinen Dinge machen einen Unterschied." Natürlich, es bräuchte mehr Tandems. Es sollen auch mehr werden. Damit das, was der jungen Flüchtlingsfamilie damals geschen ist, sich nicht wiederholt.

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