Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingsherbst in München:Bewegende Begegnungen am Hauptbahnhof

Lesezeit: 11 min

Im September vor fünf Jahren kommen in kürzester Zeit Zehntausende Flüchtlinge in München an. Die Hilfsbereitschaft und Offenheit der Stadt beeindruckt Menschen in aller Welt. Sieben Menschen, die in verschiedenen Rollen dabei waren.

Von Thomas Anlauf, Ramona Dinauer und Bernd Kastner

Plötzlich ist da dieser blaue Kühlschrank, mitten auf dem Bahnhofsvorplatz. Ein paar junge Leute haben das Trumm mit den Antifa-Aufklebern herangeschafft, zwei Polizisten helfen, den Kühlschrank in den Starnberger Flügelbahnhof zu wuchten. Der soll helfen, dass die erschöpften Menschen, die stündlich aus den Zügen aus Ungarn und Italien steigen, wenigstens kühles Wasser erhalten. Polizisten verteilen Fladenbrot und Kekse. Familien mit kleinen Kindern liegen schlafend am Boden in der Bahnhofshalle. Sie sind in Sicherheit, in München.

Es sind bewegende Begegnungen in jenen Septembertagen 2015 in München. Viele Tausende Menschen halten zusammen, helfen, wo sie können, um das, was am Hauptbahnhof geschieht, so menschlich wie möglich zu meistern. Als sich Ende August Tausende Geflüchtete aus Budapest zu Fuß, mit Bussen und in Zügen auf den sogenannten Hoffnungsmarsch nach Westen aufmachen, sind die zuständigen Behörden in München zunächst überfordert. Erst langsam wird klar, dass die Ankunft von Abertausenden Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak erst der Beginn einer riesigen Herausforderung für die Stadt ist. Oberbürgermeister Dieter Reiter ist mit seinem Krisenstab täglich am Hauptbahnhof. "Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen, so lange sie in München sind, menschenwürdig behandelt werden", sagt er am 1. September.

Innerhalb kurzer Zeit schafft das Sozialreferat mehr als 13 000 Schlafplätze für die Ankommenden. Zwischen 5. und 14. September 2015 erreichen 67 000 Flüchtlinge den Hauptbahnhof, allein am 6. September sind es 13 000. Und München reagiert. 4000 freiwillige Helfer, dazu unzählige Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Behörden, arbeiten Tag und Nacht, oft bis zur Erschöpfung. Doch der gewaltige Kraftakt gelingt, dank der Hilfsbereitschaft und Weltoffenheit der Münchner. Am Ende des Jahres leben 21 300 Geflüchtete in München. Und die Welt blickt staunend auf diese Stadt. Thomas Anlauf

Die Helferin der Helfer

Von ihrem "wichtigsten Relikt" erzählt Marina Lessig erst ganz am Ende. Hätte sie fast vergessen zu erwähnen, was ihr von den Tagen am Hauptbahnhof geblieben ist. Sie lacht.

Als es losging, war sie 26, gerade mit dem Philosophiestudium fertig, war auf Stellensuche und jobbte in einem Feinkostladen, als die Flüchtlinge kamen. Es war der denkbar größte Kontrast. Im Rückblick, sagt sie, fühlten sich ihre drei Wochen am Hauptbahnhof an wie ein ganzes Jahr. Lessig wuchs hinein in die Rolle der Hauptkoordinatorin für die ehrenamtlichen Helfer, um die 4000 dürften es gewesen sein. Sie war damals im Vorstand des Kreisjugendrings, und weil die KJR-Räume als Treffpunkt für eine der ersten Besprechungen dienten, rutschte Lessig in die Arbeit hinein. Einer der Schlüsselmomente sei eine Diskussion über Verantwortung gewesen und die Frage: Ist allein der Staat fürs Helfen zuständig, oder sind es auch Bürger? Man war sich uneins und einigte sich auf eine Art "Hammelsprung": Wer meinte, das alles sei Job des Staates, sollte aufstehen. Es seien vor allem die hauptamtlichen "Profis" gewesen, die aufstanden. Sitzen geblieben seien nur wenige, erinnert sich Lessig, "das hat mich total ernüchtert".

Egal, jetzt ging es los. Über den KJR hatte sie die Möglichkeit, Geld für das auszugeben, was die Helfer am Bahnhof unbedingt brauchten: eine IT-Grundausstattung, Handys, Laptops, dazu auch Handschuhe und Mundschutz. Der Krisenstab traf sich anfangs sieben Mal am Tag, immer im Jugendamt im Elisenhof beim Bahnhof. Davor stand ein Bus der Stadt, den nutzten die Helfer als Zentrale. Von hier aus koordinierten sie Einsätze in den Außenstellen, wo Flüchtlinge erstversorgt wurden und ein Bett bekamen: In einer Messehalle in Riem, im Luisengymnasium nebenan oder in einer Halle an der Donnersbergerbrücke. Ein wichtiger Faktor fürs Gelingen der Hilfe sei gewesen, dass Stadt und Bezirksregierung die Ehrenamtlichen nicht von oben herab behandelt hätten, sondern auf Augenhöhe. Aus dem Engagement am Bahnhof ist der Verein "Münchner Freiwillige" entstanden, so hat sich die Spontanhilfe verstetigt.

Heute arbeitet Marina Lessig - nach zwei Jahren bei der Caritas - in einer Unternehmensberatung und hält nebenbei als Gastdozentin Vorträge über Spontanhilfe. Wenn sie an den September 2015 zurückdenkt, freue sie sich vor allem über die Kollektivleistung damals und frage sich noch immer: "Wie haben wir das hingekriegt? Rückblickend klingt das alles so irre." Ach ja, die Geschichte mit ihrem "wichtigsten Relikt", auch so irre: Unter all den Tausenden Engagierten hat sie damals am Hauptbahnhof einen Mann kennengelernt. Demnächst heiraten die beiden. Bernd Kastner

Die Ankommende

Eine Sirene heulte auf, Metallzäune krachten auf Beton - der Lärm schreckte die traumatisierten Kinder auf, sie weinten und liefen im Bahnhof umher. Daran kann sich Dorcas Nabukenya noch gut erinnern. Anfang September 2015 kam die junge Frau in den frühen Morgenstunden in München an, die Flucht aus Uganda hatte sie bis hierher geführt. Um halb zwei Uhr morgens stand sie am Ostbahnhof mit einem Stück Papier in der Hand. Bayernkaserne, Heidemannstraße 50, stand darauf - da sollte sie nun hin.

Dorcas Nabukenya war erst 22 Jahre alt, sie war schwanger, und sie war allein. Die erste Nacht verbrachte sie am Ostbahnhof. Am nächsten Morgen machte sie sich dann auf den Weg zur Bayernkaserne und kam dabei am Hauptbahnhof vorbei. "Es waren unglaublich viele Menschen in der Halle", erinnert sie sich. "Kinder mit wund gelaufenen Füßen. Männer, denen ein Ohr fehlte. Dazwischen liefen Deutsche in roten und blauen Westen umher und haben versucht, die Abläufe zu erklären." Im Minutentakt kamen neue Menschen an und wurden wieder abgeholt.

Der Bus, in den Nabukenya um sieben Uhr morgens einstieg, brachte sie in die Bayernkaserne. Dort bot sich ihr ein ähnliches Bild: "Tausende Menschen liefen zwischen den Feldbetten umher, viele hatten noch blutige Verbände von ihrer Flucht um ", berichtet sie. "Noch nie in meinem Leben habe ich so etwas gesehen." Sie fühlte sich krank, sagt Nabukenya, doch bis sie einen Arzt besuchen konnte, sei eine Woche vergangen. Knapp zwei Monate seien verstrichen, bis sie registriert wurde. Dann kam die schwangere Frau in eine Unterkunft außerhalb Münchens. Manche Anwohner hätten Luftmatratzen vorbeigebracht, doch andere hätten die Geflüchteten angefeindet, sagt sie.

Nabukenya will dort nicht bleiben. Sie zieht nach Hamburg, aber dort wird sie zurück nach München geschickt. Weihnachten 2015 verbringt Nabukenya hochschwanger in der Bayernkaserne, ehe Helfer sie ins Krankenhaus bringen. Im Januar 2016 kommt ihre Tochter Raushan zur Welt. Es ist eine schwierige Geburt, ein halbes Jahr lang muss die junge Frau anschließend mit Krücken laufen.

"Besonders in dieser Zeit war ich den Mitarbeitern der Caritas sehr dankbar für ihre Unterstützung", sagt die heute 27-Jährige. Mit ihrer vier Jahre alten Tochter lebt Nabukenya seitdem in einer Gemeinschaftsunterkunft. Dort besucht sie einen Integrationskurs. Vor Kurzem absolvierte sie ihre B-1-Deutschprüfung, nun möchte sie sich weiterbilden. "Gerne würde ich später einmal für eine soziale Organisation arbeiten", sagt Dorcas Nabukenya, "ich möchte den Menschen etwas zurückgeben." Ramona Dinauer

Der Jugendschützer

Er hat immer noch zwei Aktenordner, "die werde ich nicht hergeben, das ist historisches Material". Markus Schön arbeitet längst in Krefeld, ist dort gerade zum Stadtdirektor gewählt worden, zum Vertreter des Oberbürgermeisters also. Aber die papierne Erinnerung aus München, die behält er.

2015 leitete Schön in München das Jugendamt, die beiden Ordner stammen aus dieser Zeit, die für ihn mit der Erkenntnis begann: "Hoppla, da ist was im Gang." Das dachte er sich, als er aus seinem Bürofenster im Elisenhof runter auf den Bahnhof schaute. Täglich kamen dort mehr Flüchtlinge an, allein an den ersten September-Wochenenden kamen Zehntausende. Schön machte im Jugendamt Platz für den Krisenstab, und zugleich hielten seine Leute im Gewusel des Bahnhofs und der Notunterkünfte Ausschau nach Minderjährigen. Wer unter 18 war und ohne Angehörige kam, wurde in eine Jugendhilfeeinrichtung gebracht, so will es das Gesetz. Und das Amt kümmerte sich auch um Familien, die mehr Hilfe brauchten als eine Mahlzeit und einen Schlafplatz.

"Mich erfüllt es mit Stolz, dass wir es sehr gut hingekriegt haben. Wir haben es wirklich geschafft", sagt Schön, eingedenk des berühmten Merkel-Satzes. Und so groß die Leistung der Ehrenamtlichen war, er finde es schade, dass dabei die Arbeit all der Behördenmitarbeiter etwas untergegangen sei. Das Miteinander sei der Grund für den Erfolg gewesen.

Dass die Menschen am Bahnhof für die Flüchtlinge geklatscht haben, das kam ihm schon "ein bisschen unheimlich" vor, sagt Schön. Als "unangemessen" habe er das empfunden, nicht zur Notlage der Flüchtlinge passend. Wirklich sauer aber sei er wegen der Sache mit den Zügen gewesen, als die Politik überlegte, ob wirklich alle Züge nach München geleitet werden müssen, oder ob man nicht auch Städte in anderen Bundesländern ansteuern könne. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, geradezu "betteln" habe man müssen, um die Züge um München herum in andere Städte leiten zu dürfen. "Ärgerlich." Bernd Kastner

Die Frau mit Mission

Am Gleis 26 fuhren im September 2015 die Züge aus Budapest mit Tausenden Geflüchteten ein. Am Gleis 11, genau auf der anderen Seite der Bahnhofshalle, leitet Bettina Spahn das Büro der katholischen Bahnhofsmission. Dort ist immer geöffnet, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Vor allem bevor das temporäre Registrierungszentrum am Starnberger Flügelbahnhof eingerichtet wurde, war die Bahnhofsmission für viele Geflüchtete der erste Anlaufpunkt. Bereits in den Monaten vor dem historischen ersten Septemberwochenende habe man gemerkt, wie der Zustrom immer größer wurde.

Frauen übernachteten mit ihren Kindern im Schutzraum der Mission, Jugendliche füllten hier ihre Wasserflaschen auf. Viele Familien saßen in den Ecken des Bahnhofs auf gespendeten Isomatten, erinnert sich Spahn. Bilder, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gingen. Es sei anders, die Anspannung und Hoffnung der Menschen aus direkter Nähe zu erleben, als das nur in den Nachrichten zu sehen. "Die emotionale Verarbeitung der Schicksale war eine größere Herausforderung als die Arbeitsbelastung", sagt Spahn.

In der Mission habe man auch während der turbulenten Wochen immer das Gefühl gehabt: "Wir schaffen das". Behördliche Funktionen übernahm die Mission nicht, dafür aber die Notversorgung der Menschen und eine erste Beratung. Immer wieder schickte die Polizei besonders Schutzbedürftige, die sie in anderen Teilen Bayerns aufgegriffen hatten, direkt zur Bahnhofsmission.

Die Erlebnisse des Herbstes 2015 hätten die Mitarbeiter der Mission verbunden, erzählt Spahn. Von der Politik bis zu den freiwilligen Helfern, von oben bis nach unten sei eine große Solidarität zu spüren gewesen. Mit den Geflüchteten habe sie immer versucht, wertschätzend umzugehen, ohne Illusionen zu schaffen. "Ich habe großen Respekt vor den oftmals gebildeten, vielsprachigen Menschen und ihrer Energie nach einer solchen Reise", erinnert sich die 56-Jährige. "Ein Land wie Deutschland kann so eine Problematik bewältigen, wir haben die Ressourcen."

Diese Haltung vertritt Bettina Spahn beruflich wie privat, auch wenn das nicht immer einfach ist. Während Spahn 2015 jede Woche Hunderte neue Geflüchtete in der Bahnhofsmission begrüßte, berät sie mittlerweile nur noch einige wenige im Jahr, deren Flucht über den Hauptbahnhof führt. Ramona Dinauer

Der Dolmetscher

Ahmad Abbas schrieb auf ein Pappschild, damals im Herbst 2015: "Willkommen in Deutschland! Ihr seid in München", stand darauf - auf Arabisch. So wussten die Ankommenden, dass er sie versteht, dass er ihre Sprache spricht. Als Abbas, der selbst aus Syrien stammt, von der Situation am Hauptbahnhof erfuhr, wollte er helfen.

Vor dem Ankunftszentrum erklärte er den Flüchtlingen, wie ihre Registrierung abläuft und warum sie sich medizinisch untersuchen lassen müssen. "Das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, war oft schwer", erinnert er sich, "viele sind auf ihrer Flucht von Schleusern betrogen worden." Manche fragten ihn, wie sie es bis nach Berlin schaffen könnten, wo Verwandte auf sie warteten. Dann ging Abbas mit ihnen zur Polizei und half dabei, ein passendes Zugticket zu kaufen. Er übersetzte für Behörden und Hilfsorganisation, verteilte Wasser und belegte Brote.

Eines Abends begegneten ihm zwei syrische Brüder, zwölf und 19 Jahre alt, die keinen Schlafplatz fanden. Abbas nahm sie mit zu sich nach Hause, ließ sie in seinem zwölf Quadratmeter großen Wohnheimzimmer übernachten. "Sie waren vollkommen erschöpft, ich konnte sie nicht einfach am Bahnhof zurücklassen", erzählt er. Am nächsten Tag brachte er sie wieder zurück zum Bahnhof, von wo aus sie dann weiter nach Hamburg reisten.

Während er anderen Menschen am Bahnhof half, lernte Abbas für seinen Mittelschulabschluss. Heute besucht er die Schlau-Schule, die Hunderte Flüchtlinge unterrichtet, nur noch, um mit seinem syrischen Friedenschor zu proben. Der ist sogar schon in Berlin aufgetreten beim "Tag der offenen Tür" der Bundesregierung. Abbas arbeitet inzwischen als medizinischer Fachangestellter in einer Arztpraxis, engagiert sich aber weiter ehrenamtlich. Statt im Wohnheim lebt er nun seit mehr als drei Jahren bei einer Seniorin in Trudering. Damals, 2015, hatte Abbas beim Helfen nicht nur den Vorteil, dass er arabisch spricht, er weiß auch aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, als Flüchtling in einem fremden Land anzukommen. Er selbst kam 2012 gemeinsam mit seiner Schwester nach Deutschland, gerade mal 17 Jahre alt war er. Schwer verletzt durch einen Granateneinschlag im Elternhaus, wurden die beiden aus Syrien über den Libanon in die Haunersche Kinderklinik in München gebracht. "Die Erfahrungen, die ich damals wegen meiner Verbrennungen in der Klinik und als Helfer am Hauptbahnhof gemacht habe, haben meinen Eindruck vom positiven Deutschland geformt", sagt er. "Als ich gehört habe, dass so viele Münchner am Ankunftszentrum helfen, wollte ich auch für meine Landsleute da sein." Ramona Dinauer

Die Behördenchefin

Die Polizisten sollten eigentlich nichts kriegen, daran erinnert sich Brigitte Meier noch gut. Nee, hätten die Leute von der Volxküche gesagt, wir geben denen nichts. Ein paar Wochen zuvor hatte die Volxküche die Proteste gegen den G-7-Gipfel in Elmau kochend unterstützt, da standen die Polizisten auf der anderen Seite. Aber jetzt? Meier, damals Sozialreferentin, freute sich, dass die linke Küche spontan für die Flüchtlinge und Helfer gekocht hat, aber die Polizisten hatten halt auch Hunger. Also habe man versucht, die Kochtopf-Aktivisten davon zu überzeugen, dass jetzt alle, auch die Beamten, dasselbe anstreben, nämlich den Flüchtlingen zu helfen. Das Argument sahen die Köche schließlich ein. Hand in Hand, so hätten damals alle gearbeitet, selbst jene, die sich sonst nicht so grün sind.

Als es darum ging, die Olympiahalle als Notquartier herzurichten, gab es ein Problem: "Es gab keine Betten mehr", erzählt Meier. Alles, was Feuerwehr und Rotes Kreuz auf Lager hatten, war schon aufgestellt. Was tun? Die Münchner bitten, Isomatten und Schlafsäcke zu spenden. Den Aufruf übernahm die dank Volx-Mahlzeit gut gestärkte Polizei, und siehe da: Die Münchner brachten Tausende Matten und Schlafsäcke vorbei.

Dass so vieles gut ineinander griff, hat für Meier, die seit 2019 in Potsdam, wie einst in München, als Verwaltungschefin für Soziales arbeitet, einen Grund: Wirkliches Chaos war in München schon im Herbst 2014 ausgebrochen, in der Bayernkaserne, die damals als Unterkunft für Geflüchtete völlig überfüllt war. Seither hatten Haupt- und Ehrenamtliche das Miteinander geübt, seither gab es Krisenstäbe, einen bei der Stadt, einen bei der Regierung von Oberbayern. Beide fusionierten dann im Herbst 2015 zu einem. Ohne Strukturen im Hintergrund, sagt Meier, wäre es wohl nicht gelungen, Hunderte und Tausende Ehrenamtliche auf die Schnelle zu koordinieren. So aber schafften sie es zum Beispiel, innerhalb von 24 Stunden das Notquartier in der Karlstraße hochzuziehen. Wer stellte die Betten auf? Ehrenamtliche. Bernd Kastner

Der Polizeisprecher

Man spricht Deutsch in der Ettstraße, das sei das Credo, sagt Werner Kraus, zumindest für die Pressestelle des Polizeipräsidiums gelte das. Welcher Journalist auch immer was wissen will, er bekomme die Info auf Deutsch, nicht, dass in einer fremden Sprache etwas durcheinander gerät und ein wichtiges Wort verloren gehe. Dann aber kam der September. "Aus der ganzen Welt waren Medien da", sagt Kraus, und da haben die Polizeisprecher Neues gewagt und doch Interviews auf Englisch gegeben, sonst hätten die Teams von Al Jazeera oder NBC immer Dolmetscher gebraucht. War so kompliziert auch wieder nicht, es gab ja eigentlich bloß positive Nachrichten zu verkünden, sagt Kraus, das passende Vokabular habe er dann rasch auf Englisch draufgehabt. Und so ging die Botschaft von der Willkommenskultur in die Welt hinaus, von den Münchnern, die Flüchtlinge klatschend und mit Teddybären empfingen.

Kraus war gerade aus dem Urlaub zurückgekommen, als er zum Bahnhof übersiedelte, zumindest dienstlich. Überstunden? Egal. Wochenlang war ein VW-Bus vor dem Starnberger Flügelbahnhof das mobile Hauptquartier des Sprecherteams. Daneben passierten die Flüchtlinge die "Straße", so nannte sich die Aneinanderreihung von Behördenstationen, wo die Ankommenden registriert, untersucht und auf die Notquartiere verteilt wurden.

Für Kraus, der auch heute noch in der Pressestelle arbeitet, war es ein friedlicher Einsatz; an Proteste, von rechter Seite zum Beispiel, kann er sich nicht erinnern. Die Stadt war in kollektiver Euphorie, und so ein bisschen machte sich die auch bei der Polizei bemerkbar. Die üblichen Abwehrreflexe waren plötzlich außer Kraft gesetzt, auf beiden Seiten. Waren es doch in den ersten Tagen viele Menschen aus der ganz linken Szene, die den Ankommenden halfen. Also jene Leute, die im normalen Leben, auf Demos etwa, der Polizei keinen Beifall klatschen. Am Bahnhof aber arbeiteten Polizisten und Antifa Hand in Hand. "Es war schon toll", sagt Werner Kraus, "dabei gewesen zu sein." Bernd Kastner

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5014315
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.