Ganz großes Kino werde es geben, so liest man das derzeit auf Plakaten des Münchner Dok-Fests. Bei der Festivaleröffnung am Mittwochabend gab es dann auch großes Kino: Der afghanische Film "Etilaat Roz" lief im Deutschen Theater, das mit seinen 1500 Plätzen zum Kinotempel umfunktioniert wurde. Größer geht's kaum. Das Genre boomt, es gebe eine enorme Nachfrage, sagt Festivalleiter Daniel Sponsel. Insgesamt werden 130 Produktionen aus 55 Ländern an 21 über die ganze Stadt verteilten Spielorten aufgeführt. Zudem kann man die Festivalfilme vom 8. Mai an auch online streamen.
Nicht nur Sponsel freut sich über den Doku-Boom: "In Amerika spricht man sogar vom 'Golden Age of Documentaries'", sagt Susanne Binninger. Sie ist selbst Filmemacherin und Co-Vorsitzende der AG DOK, des Berufsverbandes Dokumentarfilm. "So etwas strahlt natürlich ab, auch in Deutschland gibt es eine große Nachfrage nach dokumentarischen Inhalten", so Binninger. Gesehen werden sie bei Streaming-Plattformen oder in Mediatheken, bei Festivals, im Fernsehen oder im Kino. So liefen laut Filmförderungsanstalt (FFA) im vergangenen Jahr 132 Dokumentarfilme als Erstaufführung in den Kinos an. Vor 15 Jahren, im Jahr 2008, waren es nur 60 Filme.
Das Angebot ist also groß, die Nachfrage offensichtlich auch. Eine Erfolgsgeschichte also? Nicht ganz: Denn bei den Menschen, die diese Dokumentarfilme fürs Kino machen, kommt kaum etwas davon an. Bei Pawel Siczek etwa, der beim Dok-Fest 2023 seinen neuen Film "This Kind of Hope" zeigt. Der Mittvierziger ist gebürtiger Pole, wuchs in der Schweiz auf und studierte an der HFF München. Seit seinem Studienabschluss vor 15 Jahren macht er Dokumentarfilme fürs Kino, dafür begleitet er seine Protagonisten mitunter jahrelang. Die Recherche und Entwicklung werden aber oft nicht bezahlt, erzählt er bei einem Treffen im Münchner Bahnhofsviertel. "Von der Arbeit als Dokumentarfilmer kann ich nicht leben. Ich mache auch Nebenjobs."
Es steckt also viel Idealismus in seiner filmischen Arbeit, in "This Kind of Hope" porträtiert er Andrei Sannikov, den ehemaligen Vize-Außenminister von Belarus: Dieser galt als großes politisches Talent, trat dann aber bei der Präsidentschaftswahl gegen den Diktator Alexander Lukaschenko an, wurde verhaftet und kam ins Gefängnis. Seit mehr als zehn Jahren lebt Sannikov im polnischen Exil. Es ist ein Film über Diktaturen und Demokratien, über einen Mann im Hintergrund, der kaum mehr Aufmerksamkeit bekommt. Pawel Siczek hat ihn ein knappes Jahrzehnt lang immer wieder besucht, die ersten Aufnahmen entstanden 2013.
Dass es so lang dauerte, den Film zu machen, liegt am Wesen des Dokumentarischen: Man weiß nie, was als Nächstes passiert, solche Filme sind ergebnisoffen. Die Realität lässt sich eben nicht in Drehbüchern festschreiben. Das macht die Sache auch so spannend, deshalb strömt das Publikum zum Dok-Fest. Bei der Premiere am Sonntag, 8. Mai, wird Siczeks Film im Audimax der HFF für die beste Musik in einem Dokumentarfilm ausgezeichnet. Zudem werden Andrei Sannikov und seine Frau Iryna Chalip erwartet. Auch wegen solcher Begegnungen gehen die Menschen zu Festivals. "This Kind of Hope" eröffnete im Januar unter großem Beifall die Solothurner Filmtage, der Film ist eine schweizerisch-deutsche Koproduktion.
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Bei seinem deutschen Koproduktionspartner habe das Begeisterung ausgelöst, erzählt Pawel Siczek, die Redakteure des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg) hätten ihm zu diesem Erfolg gratuliert. Gegen die Senderanstalt erhebt der Filmemacher jetzt aber Vorwürfe: "Der RBB hat fünf Jahre lang die Ausstrahlungsrechte an meinem Film bekommen, sie haben auch zeitlich beschränkte Mediatheken-Rechte. Und das für einen erbärmlich geringen Betrag", sagt er. Die genaue Summe darf er nicht nennen. Aber: "Es war noch nicht einmal eine Monatsrente der geschassten RBB-Intendantin Patricia Schlesinger."
Als Pawel Siczek das erzählt, bebt seine Stimme; er ist ein freundlicher Mann, der viel einstecken musste und sich ungerecht behandelt fühlt. Deshalb spreche er darüber öffentlich, auch wenn das negative Folgen für ihn haben könnte. Aber betrifft das nur ihn? Hat sein Produzent einfach schlecht verhandelt? "Das ist kein bedauerlicher Einzelfall, das ist ein strukturelles Problem", sagt Dok-Fest-Chef Daniel Sponsel. Natürlich könnten die öffentlich-rechtlichen Sender nicht jedes Dokumentarfilmvorhaben unterstützen - doch wenn sie als Koproduzenten einsteigen würden und die Senderechte haben wollten, müsste es auch Budgets geben. "Bei den Sendern ist das Geld dafür nicht da. Oder wird für etwas anderes ausgegeben", sagt Sponsel.
Beim RBB sieht man das erwartungsgemäß etwas anders: Dort verweist man auf die vielen Dokumentarfilme, die in den vergangenen Jahren mit ihrer Hilfe entstanden seien. Auch Siczeks vorherigen Film habe man koproduziert. Es gebe ein "riesiges künstlerisches Potential" in der Hauptstadtregion. "Wir wollen natürlich den vielen tollen Ideen und Stoffangeboten einigermaßen gerecht werden. Das ist dem Sender bewusst und er hält trotz aller Sparzwänge Mittel dafür bereit", beantwortet die RBB-Pressestelle eine SZ-Anfrage.
Das größte Probem: die Sparzwänge der Sendeanstalten
Damit ist wohl das größte Problem benannt: Die Sparzwänge der Sendeanstalten, unter denen die Redaktionen ächzen. Und damit auch die Filmemacher. Susanne Binninger von der AG DOK weiß, dass das Engagement der Sender geringer werde. Sie sagt: "Das klassische Modell der Kino-Koproduktion basiert auf der Beteiligung von öffentlich-rechtlichen Sendern, Förderern und Verleihern. Dieses Modell gerät aber an seine Grenzen."
Im Fall von "This Kind of Hope" ist die Sache noch etwas komplizierter: Da der Film eine internationale Koproduktion mit der Schweiz ist, fällt die deutsche Beteiligung geringer aus. Im Unterschied zu Pawel Siczeks vorherigem Film habe sich die finanzielle Beteiligung "in Grenzen" gehalten, teilt der RBB mit. Man sei sich aber der eigenen Verantwortung bewusst: "Ziel ist immer das Ermöglichen von Stoffen, die uns wichtig sind und die ohne unsere Ko-Beteiligung nicht entstehen würden."
Das kann man wohlwollend oder bedrohlich sehen, je nach Betrachtungsweise: "Als wir 2017 den Film in Deutschland finanzierten, war es nahezu unmöglich, Gelder ohne Senderbeteiligung zu bekommen", sagt Siczek. Sein Produzent habe vom RBB einen "Letter of Intent" benötigt, ohne diese Sender-Absichtserklärung würde es nicht gehen. "Erst dann hatten wir echte Chancen bei der deutschen Filmförderung." Die Mitteldeutsche Medienförderung etwa beteiligte sich in der Folge an seinem Film. Als unbeteiligter Beobachter kann man dieses Prozedere auch als Druckmittel der Sender deuten: Sie sitzen am längeren Hebel, ohne sie geht es nicht.
Die Verquickung von Förderern und Sendern hat auch zu dem eingangs genannten Doku-Boom im Kino geführt: "Die Produzentinnen und Produzenten sind in der Finanzierung von langen Dokumentarfilmen angewiesen auf die Förderer", weiß Susanne Binninger. "Daher produzieren sie auch so viel fürs Kino - weil die Fernsehgelder einfach nicht reichen." Wenn etwa die bayerische oder hessische Filmförderung solche Projekte unterstützt, müssen sie im Kino anlaufen - unabhängig davon, ob sie auf diesem hart umkämpften Markt eine Chance haben. Auch "This Kind of Hope" hat einen fest eingeplanten Kinostart, später wird er im Fernsehen und in den Mediatheken zu sehen sein.
Bei der Dok-Fest-Eröffnung am Mittwochabend wurden viele Reden gehalten, darin ging es um Programmreihen, Partner und Preise. Eine afghanische Gruppe machte Musik, während Staatsminister Florian Hermann (CSU) und Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) eine beinahe identische Rede hielten. Hermann sagte: "Dem Dokumentarfilm gehört die Zukunft." Reiter bescheinigte dem Genre ebenfalls eine große Zukunft. Man muss sie sich halt leisten können.