SZ-Adventskalender:Aus der Obdachlosigkeit zurück ins Leben

Matthias S. sitzt am Feldmochinger See, wo er als Obdachloser gelebt hat.

Hier am Feldmochinger See hat Matthias S. als Obdachloser gelebt. Zu dieser Zeit begann er seine Umschulung zum Busfahrer.

(Foto: Stephan Rumpf)

Drei tödliche Unfälle als Trambahnfahrer brachten Matthias S. aus dem Gleichgewicht. Er wurde obdachlos. Doch jetzt, mit 60 Jahren, hat er wieder Arbeit und ein Dach über dem Kopf.

Von Anna Hoben

Der Tiefpunkt war im Jahr 2017. In den Notunterkünften hielt Matthias S. es nicht mehr aus, also übernachtete er fortan draußen. Weil er den Münchner Norden gut kennt, suchte er sich einen Schlafplatz am Feldmochinger See. Umgeben von hohen Sträuchern, geschützt, von der Straße aus nicht einsehbar. "Ich hatte ja mein gesamtes Hab und Gut dabei", sagt Matthias S. Von März bis November war dies sein Leben. 18 Kilo nahm er ab in der Zeit. Doch er achtete auf sich, ging jeden zweiten Tag in eine Einrichtung zum Duschen, zum Wäschewaschen. Wenn er Menschen von seiner Obdachlosigkeit erzählte, konnten die es oft nicht glauben.

An einem kalten Wintervormittag sitzt Matthias S. in einer Bäckerei in Feldmoching. Im Café gegenüber hat er damals manchmal seine Tochter getroffen. Heute, zwei Jahre später, lebt S. wieder in einer Wohnung. Er hat wieder einen Job. In wenigen Wochen wird er 61 Jahre alt. Um zu erzählen, wie er die Kurve gekriegt hat, muss er zurück zum Anfang gehen.

Orthopädieschuhmacher hat er ursprünglich gelernt, weil sein Vater auch Schuhmacher war. "Ich hab' das gern gemacht, aber nicht mit Liebe." Bevor er die Meisterfachschule beginnen konnte, ergab sich die Möglichkeit, als Paketdienstfahrer anzuheuern. Einige Zeit später fing er bei einer Getränkefirma an, lieferte Bier und Mineralwasser an durstige Münchner. Er liebte den Job, "das Biertragen war mein Fitnesstraining". Er wurde Fuhrenleiter, war verantwortlich für 58 Mitarbeiter, verdiente gut. 1985 heiratete er, in den Jahren darauf kamen zwei Töchter zur Welt.

Irgendwann schloss die Getränkefirma ihr Depot. Matthias S. machte zunächst als selbständiger Fahrer weiter. Dann, Mitte der Neunzigerjahre, ließ er sich zum Trambahnfahrer ausbilden. "Der größte Fehler meines Lebens", sagt er heute. Eines Tages im Jahr 1999 lag plötzlich ein Betrunkener auf dem Gleis. 2,6 Promille hatte der Mann, wie sich später herausstellte, Matthias S. konnte nicht mehr bremsen, keine Chance. Der Mann war tot.

Sechs Tage war Matthias S. krankgeschrieben, dann ging er wieder zur Arbeit. Von seinem Arbeitgeber fühlte er sich allein gelassen. Auch in seinem Umfeld konnte er mit niemandem über die traumatische Erfahrung sprechen. Dafür hatte er fortan er einen stetigen Begleiter: Albträume. Wenn er schweißgebadet aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, ging er in eine Spielothek und setzte sich an einen Automaten. Es ging ihm nicht ums Gewinnen, es war der Versuch abzuschalten. "Einfach monoton zuschauen, keinen Gedanken haben müssen." Wenn der Automat Bilder herunterratterte, war sein Kopf taub.

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Im Jahr 2000 ließen Matthias S. und seine Frau sich scheiden. Noch zwei weitere Male musste S. das Schlimmste erleben, das ein Trambahnfahrer erleben kann. Das dritte Mal, 2013, war es ein junges Mädchen, abgelenkt von Kopfhörern und Smartphone. Wie oft kann ein Mensch so etwas durchstehen? Matthias S. ging es immer schlechter, eine Abwärtsspirale begann. Zu den psychischen Problemen kamen finanzielle Sorgen. Durch die Spielsucht hatte er viel Geld verloren, einmal hatte er mehrere Tage im Spielsalon verbracht. Schulden häuften sich an. 2016 konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen. Es folgten: Zwangsräumung, Wohnungslosigkeit, Privatinsolvenz.

In einer Reha traf er auf einen Therapeuten, dem er sich öffnen konnte. Von da an ging es aufwärts, ganz langsam. Auch, weil Matthias S. einen starken Willen hat. Den Willen, in ein geregeltes Leben zurückzufinden. Noch während seiner Zeit als Obdachloser am Feldmochinger See begann er eine Umschulung zum Busfahrer. Als Busfahrer, sagt S., hat man mehr Kontrolle. Man kann ausweichen, anders als auf Schienen. Er fiel in der Weiterbildung durch seine positive Art auf und machte den Busführerschein. Im Oktober hat er seinen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben, mit 60 Jahren. Der Arbeitgeber habe ihn sehr stark unterstützt, sagt er, auch bei der Wohnungssuche am Tegernsee, wo er jetzt arbeitet. Das Apartment ist möbliert, aber S. hat noch kein Geschirr, keine Handtücher, keine Töpfe. Ein paar Dinge braucht er also noch für den Start in sein neues Leben. Er freut sich darauf.

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