Die Stadt vollzieht bei einem ihrer größten noch freien Entwicklungsgebiete die Wende nach der Wende. Grüne und SPD sind sich einig, dass sie für das geplante neue Stadtquartier im Münchner Norden nun doch wieder eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) einleiten wollen. Diese gilt als schärfstes Mittel des Planungsrechts, um Spekulationen einzudämmen und dadurch bezahlbare Wohnungen zu schaffen. Zudem kann die Stadt aus dem Wertzuwachs der Baugrundstücke so viel Geld für die nötige Infrastruktur abschöpfen wie mit keinem anderen Verfahren. Als letzten Ausweg kann sie Grundstücksbesitzer, die sich der Planung verweigern, enteignen. Der erste Anlauf für eine SEM im Norden war 2018 am Widerstand der Eigentümer gescheitert.
Die Fraktionschefs von Grünen und SPD erklärten am Donnerstag, warum sie trotz des Unmuts der Eigentümer wieder auf die SEM zurückgreifen wollen. Diese stelle als "einziges" Mittel sicher, dass auf dem 900 Hektar großen Areal bezahlbarer Wohnraum entstehe, sagte Anna Hanusch von den Grünen. Es wäre "fatal", wenn die Stadt bei so einer wichtigen Entwicklung nicht darauf zurückgreifen würde. Zu Beginn des Prozesses werden im Gebiet einer SEM die Grundstückspreise eingefroren. In der Regel explodieren diese, wenn Bauland ausgewiesen wird. Das verteuert automatisch später auch die Mieten, da der Investor sich über diese die Grundstückskosten zurückholt. Den Wertzuwachs der Grundstücke bis zum Einzug der Mieter schöpft bei einer SEM die Stadt ab und finanziert damit Schulen, Kindergärten und den öffentlichen Nahverkehr des neuen Stadtviertels. Was übrig bleibt, erhalten die Eigentümer zurück. Christian Müller, Fraktionschef der SPD, stellt klar, dass Stadtplanung nicht dafür da sei, "dass Privatleute Geld drucken" können. Es gehe darum, einen "vernünftigen Ausgleich zu finden". Müller erklärt den Meinungswechsel bei den Sozialdemokraten mit dem Wechsel des Regierungspartners. Mit der CSU sei es "schwierig gewesen", die geplante SEM durchzusetzen. Die SPD habe sich im Prinzip immer dazu bekannt.
Stadtplanung:SEM: Ein Projekt, das provoziert
Was ist eine Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme? Wie verhindert sie Bodenspekulation? Und warum gibt es so heftigen Widerstand im Münchner Nordosten und im Norden? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) und der damalige Zweite Bürgermeister Josef Schmid (CSU) hatten im Juni 2018 die erste SEM im Norden beerdigt. Er halte die SEM für keineswegs so böse, wie sie von den Gegnern dargestellt werde, sagte Reiter damals. Der Widerstand in Feldmoching "hat uns aber bewegt umzudenken". Die Stadt präsentierte als Ersatz für die SEM ein sogenanntes kooperatives Stadtentwicklungsmodell, dass allerdings erst ausgestaltet werden musste. OB Reiter sagt zur SEM-Rückkehr, dass beide Modelle ohnehin auf Konsens ausgelegt seien. "Das Ziel ist immer eine Realisierung im Einvernehmen mit den Eigentümern."
Dennoch erntet die Stadt für die Kehrtwende harsche Kritik. Es sei bedenklich, "wenn man dort das Wort bricht", sagt Stadtrat Dirk Höpner von der München-Liste. Er war zur Kommunalwahl als Gegner großer neuer Bauprojekte angetreten. Wenn die Stadt in so kurzer Zeit ihr gegebenes Versprechen nicht halte, mache einen das "wütend und frustriert". Die SEM-Gegner würden sich mit allen Möglichkeiten, die sie hätten, dagegen wehren, kündigte er an. Auch die Initiative Heimatboden, in der sich die Widerständler organisiert haben, zeigte sich überrascht und irritiert. Es sei schade, dass die Stadt "den eingeschlagenen kooperativen Weg verlässt und den konfrontativen Ansatz wählt", sagte Martin Zech, einer der Sprecher von Heimatboden. SEM sei für Heimatboden gleichbedeutend mit möglichen Enteignungen. Die habe aber OB Reiter öffentlich ausgeschlossen, erinnerte Zech.
Auch die CSU empfindet den Neustart der SEM als "Schlag ins Gesicht der Betroffenen", wie es Fraktionschef Manuel Pretzl formuliert. Gerade die SPD habe mit ihrem Meinungswechsel nach der Wahl "die Leute vor Ort hintergangen". Auch inhaltlich sei die SEM ein Fehler. Sie werde mittelfristig keine neuen Wohnungen ermöglichen, da es zu einer Prozesslawine der Eigentümer kommen werde. Die CSU werde im Stadtrat "erbitterten Widerstand leisten".
Ursprünglich hatte die CSU beide SEM in München mitgetragen. Als der Widerstand der Bürger immer massiver wurde, drängte sie zunächst 2018 erfolgreich zum Ende im Münchner Norden. Im zweiten SEM-Areal im Nordosten, dort werden 600 Hektar von Bogenhausen bis Daglfing für ein neues Stadtquartiert überplant, stieg sie dann ein Jahr später ohne ihren Regierungspartner aus, wodurch die SEM dort am Leben gehalten wurde. Die Grünen hatten sich von Anfang an dazu bekannt.
Nun betont die neue Stadtregierung, dass sie trotz der Rückkehr zur SEM vor allem auf die Kooperation mit den etwa 400 bis 500 Grundstückseigentümern setze. Ein eigenes Kommunikationskonzept soll erarbeitet werden, doch vor allem auf eines wolle die Koalition setzen, sagte Grünen-Fraktionschefin Hanusch: "auf das direkte Gespräch mit den Betroffenen". Auch die SPD setzt auf die offene, ehrliche Diskussion, bei der man über den besten Weg auch politisch mal streiten könne. Stadtplanung sei weniger "Kuscheln" als der Versuch, andere auch zu überzeugen, sagte Fraktionschef Müller. Die Planungen seien am Anfang und noch völlig offen, erklärten die beiden. Die Bürger könnten bei allen Schritten noch mitbestimmen.