Pflegemutter:Liebe, die nichts hinterfragt

Pflegemutter: Jedes Jahr fährt Vera Pein mit ihren Pflegekindern nach Italien. Es ist ihr Sehnsuchtsland. In diesem Sommer dabei: Alisha, Dinah und Aylin.

Jedes Jahr fährt Vera Pein mit ihren Pflegekindern nach Italien. Es ist ihr Sehnsuchtsland. In diesem Sommer dabei: Alisha, Dinah und Aylin.

(Foto: privat)

Vera Pein hat im Laufe ihres Lebens 60 Pflegekinder betreut. Manche blieben nur wenige Wochen, andere bis sie erwachsen waren. Für alle ist Pein "die Mama" - die auch gelernt hat, loszulassen.

Von Martina Scherf

"Mama, darf ich ein bisschen fernsehen?" "Nein", sagt Vera Pein, "das wisst ihr doch. Und überhaupt machst du jetzt bitte erst mal deine Hausaufgaben." Schulterzuckend verzieht sich Aylin in ihr Zimmer. Regeln sind Regeln im Hause Pein, das wissen alle. Und Fernsehen gibt es nur am Wochenende. Aber man kann es ja mal probieren, vor allem, wenn Besuch da ist.

Vier Pflegekinder hat Vera Pein zur Zeit, von drei bis 15 Jahren. Unterm Dach des alten Bauernhauses in der Nähe von Inning am Ammersee wohnt noch einer ihrer Schützlinge, der schon 24 ist, aber gerade eine Ausbildung in der Nähe macht und deshalb wieder hier Unterschlupf fand. Sie sind fünf von 60 jungen Menschen, denen die Pflegemutter im Laufe von drei Jahrzehnten beim Start ins eigene Leben geholfen hat. Manche bleiben nur ein paar Wochen, andere bis sie erwachsen sind.

Als Aylin damals kam, war sie ein Baby, ein Frühchen, "sie hat nur 1,9 Kilo gewogen", erzählt Vera Pein, 63. Der Kinderarzt sagte: "Frau Pein, das schaffen Sie nie." Doch sie hat es geschafft. "Mama, wo ist mein Englischbuch?", ruft die 13-Jährige jetzt von oben herunter. "Musst du selber wissen", schallt es zurück.

"Kinderinsel" steht in bunten Lettern am Gartenzaun. Eine Schaukel steht vor der Tür, ein paar Fahrräder, in der Einfahrt parkt ein Kleinbus. Nebenan stehen Kühe im Stall. Jeder im Dorf kennt diese bunte Großfamilie, die ein bisschen was von Bullerbü hat. Eine Insel der Ruhe wollen sie sein, sagt Vera Pein. Gerade für Kinder, die traumatisiert hier ankommen.

Sie haben oft schlimme Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht. Drogen, Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung. Einmal stand ein kleines Mädchen vor der Tür. "Sie sah aus, als überlegte sie: Will ich jetzt sterben, oder mache ich weiter?", erzählt Vera Pein. Sie nahm die Kleine auf, als wäre es das Nachbarskind, das zum Spielen kommt. Nach einem Monat sei das Mädchen herumgehüpft "wie ein Gummiball, freudig und begeisterungsfähig". Als Vera Pein später die Unterlagen vom Jugendamt erhielt, dachte sie: "Zum Glück wusste ich das alles nicht. Wenn man von vornherein denkt: Oh Gott, wie schlimm, dann schiebt man diesen kleinen Menschen auf die gleiche Schiene, auf der er vorher schon war."

Sie hat viel über Pädagogik und Psychologie gelesen. Doch sie blendet die Vorgeschichten der Kinder möglichst aus. Seit mehr als 30 Jahren widmet die gebürtige Münchnerin ihr Leben Jungen und Mädchen, die, aus welchen Gründen auch immer, in ihren Ursprungsfamilien nicht bleiben konnten. Jederzeit kann das Telefon klingeln, dann ist das Jugendamt dran und sagt: "Frau Pein, wir bringen Ihnen in zwei Stunden ein Kind. Sind Sie bereit?"

Dann wird ein Bett hergerichtet, Spielzeug und Kleider aus dem Fundus im Keller geholt, ein Essen auf den Tisch gestellt. Die größeren Kinder sagen: "Komm, ich zeig dir mal dein Zimmer." Mischlingshündin Angky hilft meistens, den Bann zu brechen, und nebenan wartet ein Kuhstall, den die kleinen Kinder lieben.

Manche kehren nach einiger Zeit zu ihren Eltern zurück. Andere bleiben. Und manche sind längst berufstätig oder haben selbst Kinder - aber wenn sie in einer Krise stecken oder Rat brauchen, rufen sie an. "Dann hört man sich nächtelang Probleme an, rückt enger zusammen, schläft selbst ein paar Nächte auf der Couch, um den verlorenen Pflegesohn, der verlorenen Pflegetochter ein Nest zu bereiten, das er oder sie gerade nötig hat."

Vera Pein hat ein Buch geschrieben über ihr Leben. Unsentimental, ehrlich, nichts beschönigend. "60 Mal Mama" lautet der Titel, "Wie ich als Pflegemutter lernte, was Kinderseelen brauchen" (mit Co-Autorin Shirley Seul, Knaus Verlag). Eltern können da einiges lernen. Wie man Liebe gibt und zugleich loslassen übt, zum Beispiel.

Wie Strukturen den Alltag regeln

Auch Vera Pein musste das erst lernen. Die Geschwister Carina und Maxmilian zum Beispiel. "Sie kamen mir vor wie Rohdiamanten. Sie wussten nicht, dass man beim Essen sitzen bleibt, nicht laut rülpst, dass man regelmäßig Zähne putzt und Spielsachen aufräumt." Ihre junge, alleinerziehende Mutter hatte es selbst nicht leicht im Leben gehabt und war völlig überfordert. Doch als sie sich wieder gefangen hatte, musste Vera Pein die beiden Kinder gehen lassen. Alle hätten damals geweint, - sie selbst, die anderen drei Pflegekinder im Haus, ihre eigene Tochter und vor allem ihr Sohn, der seinen liebsten Spielkameraden verlor. "Ich habe lange gebraucht, mich von diesem Riss zu erholen", sagt Vera Pein heute und: "Ich habe gelernt, Grenzen zu ziehen." Inzwischen sind Carina und Maximilian Ende zwanzig und besuchen ihre Pflegemama noch immer. Manchmal kommt die leibliche Mutter mit. Denn auch für Mütter hat Vera Pein ein Herz, einen Rat und eine offene Tür.

Auch für Matayo ist sie bis heute die Mama. Er kam als vierjähriger Flüchtlingsjunge aus Kongo und war von der Flucht und den Erfahrungen im Asylbewerberheim traumatisiert. Jahrelang drohte ihm die Abschiebung, immer stand eine gepackte Tasche im Keller. Heute hat er die deutsche Staatsbürgerschaft und studiert in Holland. Zu Weihnachten ist er immer da. Er sei ihr eine Stütze, sagt Vera Pein, sie könne sich immer auf ihn verlassen.

Vera Pein ist eine resolute, zupackende Frau. Sie löst Probleme, anstatt lange zu grübeln. Geld fehlt immer, denn die Pflegesätze vom Jugendamt und das Kindergeld reichen nur für die nötigsten Anschaffungen. Sie will ihren Kindern aber auch etwas bieten, Ausflüge, Schwimmen, Reiten und möglichst jede Therapie, die sie brauchen. Da waren ihre Kinder vor ein paar Jahren auf die Idee gekommen, die Mama zu "Wer wird Millionär?" von Günther Jauch zu schicken. Warum nicht, dachte sie, überwand das Lampenfieber - und kam mit 64 000 Euro nach Hause. Das half, den Haushalt ein bisschen aufzumöbeln und Schulden zu begleichen.

Strukturen im Alltag seien wichtig, sagt Vera Pein, feste Mahlzeiten, Rituale beim Schlafengehen, Plätzchenbacken im Advent. "Mütter sind heute ja meistens in Eile", sagt sie, "aber vor allem kleine Kinder brauchen nichts mehr als Nähe und Zuwendung." "Mit dem Herzen sehen", nennt sie das. Bei anderen würde es vielleicht pathetisch klingen. Bei ihr klingt es einfach wahr. "In unserer Erwachsenenwelt ist wenig Platz für die Wahrnehmung der Kinder. Dabei können wir so viel von ihnen lernen", das hat die Pflegemutter über all die Jahre erfahren. "Meine Kinder sind ein Spiegel für mich. Wenn sie sich auffällig verhalten, schaue ich zuerst bei mir selbst nach, bevor ich sie maßregle." Vielleicht sei manches leichter für sie, meint sie, "denn wir sind eine Familie auf Zeit, eine Schicksalsgemeinschaft."

Dass Vera Pein überhaupt Pflegemutter wurde, war Zufall - oder Schicksal, wie sie meint. Sie wuchs als behütetes Einzelkind in München auf und jobbte schon früh als Babysitterin. In der Pubertät lockte das Abenteuer, nach einer Lehre zur Arzthelferin ging sie nach Italien, verliebte sich und blieb. Sie bekam eine Tochter und einen Sohn und wohnte in einem Haus auf dem Land, ihr "Paradies", wie sie noch heute sagt. Als der Vater ihrer Kinder sie verließ, zogen ihre Eltern zu ihr. Doch dann wurden beide Eltern krank, und sie kehrten schweren Herzens nach Deutschland zurück. Als Tagesmutter, dachte sie, könnte sie gleichzeitig für ihre Eltern und für ihre Kinder da sein und ein wenig dazu verdienen. Da wurde sie vom Jugendamt gefragt: "Wir suchen dringend Pflegeeltern. Können Sie sich das denn auch vorstellen?" Warum nicht, antwortete sie.

"In einer schwierigen Situation sind diese Kinder in mein Leben gepurzelt und haben mir eine Struktur gegeben", sagt die resolute Frau rückblickend. Als die Eltern gestorben waren, ist sie mit ihrer Kinderschar zur Miete in das alte Bauernhaus in Inning gezogen. Eines will Vera Pein betonen: "Ohne meine Freunde hätte ich es nicht geschafft." Ein Bekannter repariert, was zu reparieren ist, eine Freundin gibt Nachhilfe, sie übernehmen auch mal Fahrdienste, bringen Spenden oder backen einen Kuchen.

Italien blieb ihr Sehnsuchtsland. Ihre Tochter lebt mit eigener Familie wieder dort. Jedes Jahr fährt Vera Pein mit den Kindern hin. "Die sollen auch mal Urlaub haben." Sie bleiben dann eine Woche auf dem Campingplatz am Meer und ein paar Tage bei der Tochter.

Ruhestand, so etwas kann sich Vera Pein nicht vorstellen. Sie will auf jeden Fall weitermachen, bis ihre beiden Mädchen erwachsen sind. Rente bezieht sie ohnehin nicht, sie war nie angestellt. "Aber ich fühle mich stark genug. Mal sehen, was noch kommt." Das Loslassen hat sie gelernt. Und dass ihre Liebe immer nur eine begleitende ist. "Aber vielleicht ist das ja überhaupt das Wesen der Liebe?"

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