Süddeutsche Zeitung

European Championships:Berauscht vom Münchner Publikum

Zwei Titel, einmal Silber, einmal Bronze: Angepeitscht von 40 000 Fans glückt den deutschen Leichtathleten bei der EM eine Gala, von der noch lange die Rede sein wird.

Von René Hofmann

"München wird immer einen ganz speziellen Platz in meinem Herz haben": Dass Sieger den Ort ihres Triumphes würdigen, kommt öfter vor. Niklas Kaul aber fiel nach seinem Sieg im EM-Zehnkampf im Münchner Olympiastadion dann doch auffallend viel über die Kulisse ein. "Ich hab's noch nie so erlebt", schwärmte der 24-jährige Mainzer, der vor vier Jahren auch schon eine Heim-EM in Berlin erlebt hat.

"Ganz krass" empfand er die Unterstützung schon beim Speerwurf, der neunten Disziplin, beim abschließenden 1500-Meter-Lauf "sind mir fast die Ohren weggeflogen, das war der Wahnsinn", berichtete Kaul: "Das zeigt dann doch, dass die deutsche Leichtathletik lebt und dass es einen guten Grund für uns alle gab, sich auf diese Tage hier zu freuen." Sein Wunsch für die nächsten Tage? "Dass das Münchner Publikum die anderen Leichtathleten genauso mitnimmt, weil das etwas ist, was die nie mehr vergessen werden."

40 000 begeisterte Fans, La Ola, "Oh, wie ist das schön": Unter dem Zeltdach wurde eine Party gefeiert, wie es sie so nur an Sportplätzen gibt - und das selten: Zuschauer und Athleten steigerten sich gegenseitig in einen Rausch.

"Das Stadion ist heute der absolute Wahnsinn. Ich bin euch so unfassbar dankbar", richtete Gina Lückenkemper den Zuschauern im weiten Rund über das Stadionmikrofon aus, nachdem sie in einem knappen Schlussspurt den EM-Titel im 100-Meter-Lauf an sich gerissen hatte. "In diesem Hexenkessel heute zu stehen und zu merken, das Stadion ist voll und die sind alle hier, weil sie sehen wollen, wie ich eine geile Performance auf die Beine bringe, das hat unfassbar motiviert."

Kristin Pudenz, die ihren Diskus so weit schleuderte wie noch nie -auf 67,87 Meter, was ihr Silber einbrachte -, schickte ebenfalls freundliche Grüße Richtung Tribüne: "Da haben die Zuschauer auf jeden Fall mitgeholfen." Claudine Vita, die mit 65,20 Metern Dritte wurde, lobte das "geile Publikum".

Es war nicht das erste Mal seit den Olympischen Spielen 1972, dass es ein solches bei der Leichtathletik an diesem Ort zu erleben gab. 2002 gastierte die EM schon einmal unter dem Zeltdach, und als Dieter Baumann damals bei seinem ersten großen Auftritt nach seiner Dopingsperre zu Silber über 10 000 Meter stürmte, war der Applaus so frenetisch, dass "dem Acrylglas des Daches die Zersplitterung drohte", wie der SZ-Chronist notierte.

Bei Baumanns Jubellauf hatte es in Strömen geregnet. Dieser Dienstagabend dagegen war wolkenlos und warm und windarm. Optimale äußere Bedingungen. Ein Hauch Sommermärchen lag in der Luft.

Für Arthur Abele, 36, war es der letzte Zehnkampf seiner Karriere. Der Überraschungseuropameister von vor vier Jahren in Berlin wurde, nachdem er den Wettkampf als Fünfzehnter beendet hatte, mit Coldplay-Song und einer Bilder-Hommage verabschiedet, was ihm die Tränen in die Augen trieb. "Die Stimmung war unfassbar hier", sagte er sichtlich bewegt am ARD-Mikrofon: "Das ist echt abartig gewesen. Es war so schön, und es hat so viel Spaß gemacht. Ich hab's einfach nur genossen. Das ist das perfekte Ende jetzt für mich."

Frank Busemann, 1996 in Atlanta Silbermedaillengewinner im Zehnkampf und nun schon länger TV-Experte, sagte im gleichen Sender: "Ich bin komplett benebelt von dem ganzen Abend. Das, was heute hier passiert, das muss man erleben. Da kann man nicht davon erzählen, da muss man dabei gewesen sein." Und: "Das erlebst du nur einmal. Da darfst du das Stadion nicht verlassen. Da musst du dich hier festnageln, damit dich keiner rausträgt."

Entzückt waren aber keineswegs nur die Einheimischen. Die Kroatin Sandra Perković, Siegerin im Diskuswurf, lobte: "Deutschland hat wirklich eine gute Sportkultur. Die Zuschauer haben mich sehr gepusht." Die Britin Daryll Neita, Dritte über 100 Meter, fand trotz ihrer Niederlage: "Das Publikum war fantastisch." Zehnkämpfer Janek Õiglane aus Estland empfand die deutschen Fans als "einfach nur großartig, ich habe jeden Moment im Wettkampf genossen". Der britische Weitspringer Jacob Fincham-Dukes glaubt gar: "Die unbeschreibliche Art, wie hier alle unterstützt werden, macht alle Wettbewerbe besser." Diese laufen noch bis Sonntag.

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