Süddeutsche Zeitung

Notfallhilfe:Erste-Hilfe-Kurs mit dem Smartphone in der Hand

Lesezeit: 2 min

Rettungsdienste stehen vor der Herausforderung, ihre Schulungsangebote zeitgemäß zu halten. Das neue Kurskonzept der Johanniter setzt auf Alltagsnähe durch Multimedia.

Von Philipp von Nathusius

Ein Motorradfahrer liegt reglos neben einer Kreuzung auf dem Gehsteig. Im Hintergrund fahren Autos von der einen Seite zur anderen, scheinbar achtlos. Was tun? Erste Hilfe leisten, das ist selbstverständlich. Dazu ist jeder in Deutschland verpflichtet, so steht es im Strafgesetzbuch. Wer tatenlos bleibt, wenn andere in "gemeiner Gefahr oder Not" sind, riskiert eine Gefängnisstrafe: unterlassene Hilfeleistung, Paragraf 323c. Also helfen, stabile Seitenlage, aber: Wie geht das noch mal?

Das Unfallbeispiel ist fiktiv, Thomas Fuchs hat es von seinem Tablet über den Beamer an die Wand geworfen. Der 40-Jährige ist Ausbildungsleiter für Erste-Hilfe-Kurse bei den Münchner Johannitern. Mithilfe seines digitalen Schulungsbaukastens kann er rund 50 verschiedene solcher Szenarien entstehen lassen: ein Kind, das sich den Arm hält vor einen Spielplatz setzen oder eine am Kopf blutende Frau in eine Werkstatt legen. Im Hintergrund bewegen sich Fahrzeuge, Menschen, Maschinen, die Blätter der Bäume. "Wir wollen die Kursteilnehmer in ihrer Erlebniswelt abholen", sagt Fuchs.

Die Johanniter haben, so wie andere Rettungsdienste auch, zuletzt viel investiert in ihr Kursangebot. Viel Multimediales, mehr praktische Bestandteile. "Wir gehen komplett weg von stundenlangem Frontalunterricht", sagt Fuchs. Seit Jahresbeginn hat er sein Team dafür geschult. An Tablets, für die neue Schulungssoftware, im Umgang mit den mehr gewordenen digitalen und den immer noch vorhandenen analogen Unterrichtsmaterialien. Im September ist das neue Kurskonzept der Johanniter nun offiziell an den Start gegangen.

18 000 Trainingsteilnehmer unterrichten Fuchs und sein Team im Kreisverband der Johanniter pro Jahr: Fahrerlaubnisanwärter, Berufsverbandsmitglieder, Sporttrainer. Eigentlich aber sollte jeder regelmäßig einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen. Nur so lasse sich die Theorie im Ernstfall in die Praxis übertragen, sagt Fuchs. Regelmäßig heißt im besten Fall: alle zwei Jahre. Ein Appel, den die Rettungsdienste seit Jahren an die Allgemeinheit richten, der aber oft verhallt.

Einer Forsa-Umfrage zufolge trauen sich 40 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger nicht zu, in einer Notfallsituation einen anderen Menschen wiederzubeleben. Die Befragten nennen dafür vor allem drei Gründe. Da wäre zum einen die Hemmung, einen Fremden anzufassen. Manch einer ekelt sich vor einer möglichen Mund-zu-Mund-Beatmung oder befürchtet, sich mit Krankheitserregern anstecken zu können. Nachvollziehbar, wenngleich Hilfsmittel für den Notfall wie eine Beatmungsmaske an jeden Schlüsselbund oder in jede Handtasche passen. Bedenklicher, aus Sicht der Johanniter, ist, dass zwei Drittel der Verunsicherten angeben, nicht zu wissen, wie sie bei einem Wiederbelebungsversuch vorgehen sollen. Und 80 Prozent sogar sagen, aus Angst etwas falsch zu machen, lieber tatenlos zu bleiben. Und das kann Menschenleben kosten.

"Das Schlimmste was man tun kann, ist nichts zu tun", sagt Thomas Fuchs. "Gerade rund um das Oktoberfest, wird sofort assoziiert, dass jemand, der auf dem Boden liegt, betrunken ist", warnt er. "Das muss nicht immer der Fall sein." Auch wenn man eigentlich in Feierlaune ist oder in Eile, dürfe man sich nicht wegducken vor der eigenen Verantwortung. In jedem Fall sollte man Menschen, die offensichtlich in einer Notlage sind, ansprechen und fragen, ob man helfen könne. "Und notfalls zum Handy greifen und die Rettungskette in Gang setzen." Das sei das Mindeste.

Die neuen Erste-Hilfe-Kurse der Johanniter nun sollen attraktiver, moderner und effektiver sein. Die maximal 20 Teilnehmer pro Kurs können per QR-Code im Netz Videos abrufen über das eigene Smartphone. Dort gibt es Tutorials zum "Rautekgriff" oder dazu, wie man einen Defibrillator anwendet. Die Sequenzen lassen sich auch zu Hause nochmals anschauen. Die Torso-Puppen zum Üben der Herz-Lungen-Wiederbelebung sind per App mit Tablets verbunden. Über das Display bekommen die Kursteilnehmer sofort Feedback: Stimmt die Frequenz? Stimmt der ausgeübte Druck? Gelangt die beatmete Luft wirklich in die Lunge des Verunglückten? "Wir wollen", sagt Fuchs, "dass die Teilnehmer nicht nur Inhalte kennen. Es geht uns vor allem um Verstehen und Anwenden."

Die Auswahl an multimedialen Schulungsszenarien würde stetig erweitert. Ein Wiesn-Szenario mit sich im Hintergrund drehendem Riesenrad und durchs Bild wankenden Trachtenträgern fehlt allerdings noch.

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Quelle:
SZ vom 24.09.2019
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