ErinnerungskulturNeun neue Gedenktafeln für Münchner Shoah-Opfer

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„Wir sind aufgewachsen damit, dass alles Deutsche böse ist“: Miriam Oles (Mitte) vor dem einstigen Wohnhaus ihres Urgroßvaters, gemeinsam mit ihrer Nichte Robyn Stukalin und drei ihrer Enkelkinder. Im Hintergrund Stadtrat Stefan Jagel.
„Wir sind aufgewachsen damit, dass alles Deutsche böse ist“: Miriam Oles (Mitte) vor dem einstigen Wohnhaus ihres Urgroßvaters, gemeinsam mit ihrer Nichte Robyn Stukalin und drei ihrer Enkelkinder. Im Hintergrund Stadtrat Stefan Jagel. (Foto: Robert Haas)

Erinnert wird unter anderem an Abraham Schindler, einst Lebensmittelhändler in der Buttermelcherstraße. Zur Einweihung kommen einige seiner Nachkommen erstmals nach Deutschland.

Von David Kulessa

„Jeder jüdische Mensch in München kannte ihn“, sagt Miriam Oles, während sie hilft, das Erinnerungszeichen für ihren Urgroßvater Abraham Schindler an der Fassade des Mehrfamilienhauses in der Buttermelcherstraße 14 zu befestigen. Ihre Mutter, seine Enkelin, habe ihr häufig davon erzählt: „In seinem koscheren Laden kauften selbst die Juden vom anderen Ende der Stadt ein.“ 1907 eröffnete Abraham Schindler, Jahrgang 1872, sein Lebensmittelgeschäft in der Buttermelcherstraße, wo er auch lebte. Am 11. Mai 1943 ermordeten ihn die Nazis im Ghetto Theresienstadt.

82 Jahre später gibt die Stadt ihm und acht weiteren Opfern der Shoah „ein Stück weit ihren Platz in München zurück.“ So drückte es am Mittwoch Stadtrat Stefan Jagel (Linke) bei der Gedenkveranstaltung im Jüdischen Gemeindezentrum aus. Nicht nur Abraham Schindler, sondern auch seine Ehefrau Necha Schindler, die gemeinsame Tochter Judith Steinberg, der Schwiegersohn Eli Steinberg sowie die Enkel Issachar Dow Steinberg und Klara Steinberg sind jetzt wieder ein Teil des Lebens in der Buttermelcherstraße 14. Sie alle sind an ihrem einstigen Wohnhaus von nun an mit einer vergoldeten Wandtafel aus Edelstahl verewigt.

Ein Mitarbeiter der Stadt schraubt die Gedenktafel für Klara Steinberg, die Enkelin von Abraham Schindler, in der Buttermelcherstraße fest.
Ein Mitarbeiter der Stadt schraubt die Gedenktafel für Klara Steinberg, die Enkelin von Abraham Schindler, in der Buttermelcherstraße fest. (Foto: Robert Haas)

Fünf weitere solcher Gedenktafeln wurden in der Westermühlstraße 37 angebracht, dem ehemaligen Zuhause von Mina Blumenberg, der Schwester Abraham Schindlers, und ihrer Familie: Ehemann Michael Blumenberg, Tochter Eva Mandel, Schwiegersohn Leon Mandel, Enkelin Klara Krippel. „Ihre Leben wurden ausgelöscht, nur weil sie Juden waren“, sagte Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, bei ihrer Rede im Gemeindezentrum: „Sie gehören zu den mehr als 5000 Münchner Juden, die getötet wurden. Sie bleiben Teil unserer Gemeinde.“

Viele Angehörige sind zum ersten Mal in Deutschland

Die 92-jährige Knobloch hat maßgeblich dazu beigetragen, dass es in München seit 2017 knapp 300 Erinnerungszeichen im städtischen Raum gibt – und keine Stolpersteine. Diese existieren nur auf staatlichem oder privatem Grund: 424 Stolpersteine gibt es aktuell in München. Knobloch sprach sich stets gegen sie aus. Sie, die den NS-Terror in München als Kind miterlebt hatte, sagte einmal: „Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Menschen, auf die man schon auf dem Boden liegend immer weiter eintrat und die mit schweren ledernen, stahlbekappten Stiefeln in die Transporter getreten wurden.“ Also solle den Menschen heute auf Augenhöhe gedacht werden.

„Ich finde das gut“, sagt Miriam Oles, die Urenkelin von Abraham Schindler, als die Tafeln angebracht und alle Fotos geknipst sind. „Stolpersteine hielt ich schon immer für etwas merkwürdig.“ Mit rund 20 Mitgliedern ihrer Familie ist Oles vor einigen Tagen aus den USA nach München gekommen. Und fast alle von ihnen, erzählt sie, seien zum ersten Mal in jener Stadt, in der die Wurzeln ihrer Familie liegen.

Auch sie, 78 Jahre alt, habe vorher noch nie deutschen Boden betreten: „Wir sind aufgewachsen damit, dass alles Deutsche böse ist.“ Allein mit Lufthansa zu fliegen, sei lange unvorstellbar gewesen. Ihre Gefühle seien deshalb, bevor sie herkam, sehr gemischt gewesen. Lange, sagt sie, habe sie gezweifelt, ob es eine gute Idee ist. Und nicht alle Familienmitglieder hätten sich entschieden wie sie: Ihre Schwester zum Beispiel sei in den USA geblieben: „Es ging nicht.“

Und wie fühlt es sich an, jetzt, wo sie in München ist? „It's a lovely town with lovely people“, sagt Oles, eine reizende Stadt mit reizenden Menschen. Sie sei besonders dankbar dafür, wie entgegenkommend die Stadt gewesen sei. Während Stolpersteine vielerorts durch private Spenden – nicht selten also durch die Nachfahren der Opfer – finanziert werden müssen, kommt in München die Stadt für die Kosten und die Pflege auf. Nur wer möchte, kann sich daran beteiligen.

Rabbiner Jan Guggenheim trug nach dem Anbringen der Tafeln ein Gebet in der Buttermelcherstraße vor.
Rabbiner Jan Guggenheim trug nach dem Anbringen der Tafeln ein Gebet in der Buttermelcherstraße vor. (Foto: Robert Haas)

Eigentlich hätte die Reisegruppe etwa doppelt so groß sein sollen, doch all jene Familienmitglieder, die heute in Israel leben, konnten das Land wegen des Krieges nicht wie geplant verlassen. Knobloch ging in ihrer Rede auch darauf ein: „Ich wünsche mir, dass die Menschen in Israel sicher leben können“, sagte die 92-Jährige, die zudem, wie so oft, davor warnte, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen: „Der Judenhass hat zugenommen, von rechts und links“, so Knobloch. „Wir dürfen Antisemitismus keinen Fuß breit Platz gewähren.“

1941 musste Abraham Schindler in ein sogenanntes Judenhaus ziehen

1938 wurde das Geschäft von Abraham Schindler, der 1903 mit seiner Familie nach München gekommen war und dessen Sohn Salomon im Ersten Weltkrieg starb, zwangsliquidiert. 1941 musste er, wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau, in ein sogenanntes Judenhaus in der Ickstattstraße ziehen, wo auch seine Schwester Mina Blumenberg und sein Schwager Michael Blumenberg hin gezwungen wurden. Sie starb noch in der Ickstattstraße, er wurde genau wie Abraham Schindler nach Theresienstadt deportiert und anschließend ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Dort wurde er im September 1942 ermordet.

Neben Charlotte Knobloch sprachen auf der Gedenkveranstaltung auch einige Nachfahren Schindlers, der Jüngste von ihnen war Yel, der jugendliche Enkel von Miriam Oles. Die fünfte Generation also. Und Yel sagte: „Es ist eine Sache, über den Holocaust in der Schule und von Erzählungen in der Familie zu lernen. Aber es ist etwas völlig anderes, hier zu sein, wo unsere Familie einst lebte, lachte und liebte. Diese Menschen hatten Traditionen, Lieblingsmusik und Lieblingsessen. Sie waren Teil ihrer Gemeinde. Und sie sind wichtig, nicht weil sie starben, wie sie starben – sondern weil sie lebten, wie sie lebten.“

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, in München gebe es nur „vereinzelt“ Stolpersteine. Tatsächlich sind es laut der „Initiative Stolpersteine für München“ aktuell 424.

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