Süddeutsche Zeitung

Erinnerungskultur:Wie Münchner gegen das Vergessen kämpfen

Der eine kratzt Inschriften an Denkmälern ab, andere stürzen sich lieber ins Archiv. Alleine oder in Gruppen machen sie sich für die Erinnerungskultur in der Stadt stark. Wer sind diese Menschen?

Von Lea Kramer

Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit tun sich viele Städte schwer. Das zeigt in München nicht zuletzt die hochexplosive Debatte über die belasteten Straßennamen. An anderer Stelle wird weniger intensiv diskutiert oder gar kollektiv geschwiegen. Diesen Lücken in der Erinnerungskultur widmen sich auch in München häufig einzelne Künstler, engagierte Heimatforscher, Vereine oder Zusammenschlüsse von Historikerinnen. Wer sind die Menschen, die in die dunklen Ecken der Stadtgeschichte schauen und sich darum bemühen, dass auch diese für alle sichtbar werden?

Münchens fast vergessener Brandanschlag

In der Nacht auf den 7. Januar 1984 verüben zwei Männer einen Brandanschlag auf ein Lokal im Münchner Bahnhofsviertel. In der Diskothek Liverpool an der Schillerstraße feiern 30 Menschen, als brennende Benzinkanister in den Eingang des Lokals geworfen werden. Acht Gäste werden verletzt, darunter die 20-jährige Corinna Tartarotti, die dort an diesem Abend an der Bar arbeitet. Sie stirbt drei Monate nach dem Anschlag an den Folgen ihrer schweren Brandverletzungen. Die beiden Täter entkommen, werden später aber festgenommen. Die Männer sind Teil oder gar Kern einer rechten und fundamentalistischen Terrorzelle. Die sogenannte "Gruppe Ludwig" hat zwischen 1977 und 1984 mehrere Anschläge in Deutschland und Oberitalien mit mehreren Toten verübt.

Das Münchner Opfer und die Tat waren lange Zeit in Vergessenheit geraten. Seit drei Jahren kümmert sich die "Antisexistische Aktion München (Asam)" - ein loses Bündnis linker feministischer Aktivistinnen - darum, dass der Fall aufgearbeitet wird. "Schwerpunktmäßig organisieren wir Proteste gegen radikale Abtreibungsgegner, zu unserer politischen Praxis gehört aber auch Erinnerungsarbeit", sagt Nina Stern, Sprecherin der Gruppe. Da es sich bei den Tätern um Personen gehandelt habe, die neben extrem rechtem Gedankengut auch antifeministische Ideologien verfolgten, habe Asam begonnen, sich intensiver mit der Tat zu befassen und Gedenkveranstaltungen im Bahnhofsviertel organisiert. "Wir wollen darauf hinweisen, dass es in den Taten der Gruppe Ludwig, dem Oktoberfest-Attentat, der NSU-Mordserie oder dem Anschlag am OEZ Kontinuität gibt. Die Sicherheitsbehörden, aber auch die Gesellschaft scheinen daraus nicht gelernt zu haben", sagt Stern.

Zwei freie Journalisten aus dem Netzwerk der Aktivistinnen haben bei ihren Recherchen sogar das verschwunden geglaubte Grab von Corinna Tartarotti auf dem Sendlinger Friedhof gefunden. Die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e. V. (A.i.d.a) hat mittlerweile die Kosten für die Grabstelle übernommen und sie bis ins Jahr 2032 gesichert. Auch im Stadtrat ist der Fall mittlerweile angekommen. Im Januar haben die Stadtratsfraktionen von Die Linke/Die Partei, SPD/Volt und Grüne/Rosa Liste gemeinsam beantragt, dass eine Gedenktafel an der Schillerstraße künftig an den Anschlag erinnern soll.

Hilfe für Angehörige der sogenannten NS-Euthanasie-Morde

In den Jahren von 1939 bis 1945 hat das NS-Regime in einem staatlich gelenkten Vernichtungsprogramm etwa 300 000 psychisch Erkrankte sowie Menschen mit Behinderungen ermordet. Unter den Opfern dieser "Euthanasie"-Morde sind auch mehr als 2000 Münchnerinnen und Münchner gewesen, die zweitgrößte Opfergruppe des NS-Terrorstaats in der Stadt. Damit ihre Angehörigen mit dem Schicksal nicht allein gelassen werden und eine Anlaufstelle haben, hat Sybille von Tiedemann eine Webseite eingerichtet. Dort unterstützt die Historikerin jene, die Antworten suchen auf ein schmerzliches Kapitel in der eigenen Familien- und nicht zuletzt der Stadtgeschichte.

"Viele Angehörige sind überrascht, dass es in den Archiven noch Akten über ihre Verwandten gibt", sagt sie. Diese seien aber oftmals für Laien nicht so leicht aufzuspüren. "Es kann sein, dass da etwas auf einem Speicher einer Klinik liegt. Andere Unterlagen sind im Bundesarchiv - oder ganz woanders," sagt sie. Wer am Anfang der Recherche stehe, müsse viele Hürden überwinden und werde häufig abgewimmelt. Dem habe sie etwas entgegensetzen wollen, "damit die Opfer einen würdigen Platz in der Erinnerung bekommen". Die Historikerin hat sich jahrelang als Teil der Arbeitsgruppe Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München in die Materie eingearbeitet. Im Auftrag des NS-Dokuzentrums hat sie am "Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen ,Euthanasie'-Morde" mitgearbeitet, das 2018 erschienen ist. Dafür hat sie mehr als 1300 Krankengeschichten gesichtet und Hunderte Namen von Deportationslisten abgetippt. Bei Gesprächen mit Hinterbliebenen habe sie gemerkt, dass diese trotz individueller Einzelschicksale ihrer Angehöriger vor ähnlichen Problemen stünden. Wie können die Eintragungen der Krankengeschichte gedeutet werden? Was bedeutet eine damals gestellte Diagnose? "Ich wollte einen Leitfaden erstellen, wie Angehörige damit umgehen können und sie gleichzeitig in ihrem Wunsch nach Antworten stärken", sagt sie. Entstanden sind die Webseite www.ns-euthanasie-aufarbeitung.de und eine Angehörigengruppe, die sich regelmäßig trifft.

Da das Morden von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar aus gesteuert wurde, sei es nicht so einfach, in München einen guten historischen Erinnerungsort zu finden, sagt Tiedemann. Dennoch: "Das waren Münchner Bürgerinnen und Bürger, es müsste etwas geben, das hier im Stadtbild an sie erinnert." Darüber hinaus wünscht sie sich, dass das Münchner Stadtoberhaupt Gesicht zeigt und beim Gedenktag für die Opfer der NS-Euthanasie am 18. Januar dabei ist. "Wir haben den Oberbürgermeister immer eingeladen, bislang hat er stets eine Vertretung geschickt", sagt sie. Dass das Thema mehr Beachtung braucht, hat die Lokalpolitik verstanden. Ende April haben Die Linke, Die Grünen/Rosa Liste sowie Volt und SPD in einem gemeinschaftlichen Antrag gefordert, dass die NS-Vergangenheit im Münchner Gesundheitssystem erörtert wird und so auch die Opfer präsenter werden.

Er ist ein Pionier der Erinnerungskultur, der prominenteste unter den Münchner Protestkünstlern. Manche sagen, Wolfram Kastner gehe es nur darum, zu provozieren. Er selbst sagt: "Ich mach das seit vielen Jahren und habe die abenteuerlichsten Dinge erlebt. Nicht ich provoziere, die Zustände provozieren mich." Vor allem die Haltung der öffentlichen Stellen zum "Erinnerungsdiskurs" oder der "Erinnerungs-Arbeit", wie er es lieber genannt haben will, ärgert ihn. Die Diskussion finde ja in der Auseinandersetzung statt und nicht im einseitigen Entwerfen von Gedenkstätten, die keiner mehr verstehe.

"Die Stadt sagt bei vielen Dingen: Wir haben da eine ganz moderne Form des Erinnerns, und weil die keiner mehr als solche erkennt, stört sie dann auch nicht im Stadtbild", sagt Kastner. Er spielt auf das Denkmal für den gescheiterten Hitler-Attentäter Georg Elser an. In der Maxvorstadt war 2009 in Erinnerung an den Widerstandskämpfer das Lichtkunstwerk einer Frankfurter Künstlerin angebracht worden. Nicht einmal den ursprünglichen Initiatoren des Denkmals rund um die Münchner Georg-Elser-Initiative hatte der aus einem städtischen Wettbewerb hervorgegangene Entwurf schlussendlich gefallen. Oder Kastner meint den virtuellen Audio-Rundgang "Memory Loops", der mithilfe Hunderter Tonspuren zu Tatorten des NS-Terrors in München führt - allerdings hauptsächlich den virtuellen Stadtplan durchbricht. "Wo es unangenehm wird, drückt man sich herum und scheut das Licht der Öffentlichkeit", sagt er.

Seine eigenen Projekte findet Wolfram Kastner naturgemäß besser, zum Beispiel das temporäre "Widerstands-Denkmal" am Platz der Freiheit in Neuhausen. Das hat ihm die Stadt kürzlich zum dritten Mal verlängert. Die zwölf Stelen dürfen zwölf weitere Jahre dort bleiben. Darauf sind dort Menschen und ihre Biografien zu sehen, die sich gegen das NS-Terrorregime gestellt haben. "Dieses Denkmal liegt mir sehr am Herzen, weil es den Unbekannten ein Gesicht gibt", sagt er. Irgendwie schaffe die Stadt es aber nicht, dieses Denkmal zu verstetigen. Genauso wenig wie ein würdiges Andenken an Kurt Eisner. Mit dem Verein "Das andere Bayern" setzt er sich seit Jahrzehnten für das vernachlässigte Erbe des Ministerpräsidenten ein. "Das ist immerhin der Begründer des Freistaats Bayern. Warum kann er das Ehrengrab nicht zurückbekommen, das er 1922 hatte?"

Ein echter Neuhauser auf der Suche nach der Geschichte

Mit Wolfram Kastner hat auch Franz Schröther schon zu tun gehabt - und ihm mit seiner Vorrecherche zum Mahnmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen der Bayerischen Eisenbahntruppe vielleicht sogar geholfen. Richtig gefallen hat dem Neuhauser Heimatforscher aber nicht, dass der Künstler dann einfach die Propagandainschrift der Nationalsozialisten an dem Denkmal an der Dachauer Straße verändert hat. "Das ist eine typische Kastner-Aktion gewesen", sagt der 75-Jährige, "aber mein Stil ist es nicht". Schröther arbeitet lieber mit Akten oder stöbert auf Flohmärkten nach Postkarten und Bildern.

Seit fast 30 Jahren ist der gebürtige Neuhauser bei der Geschichtswerkstatt in Neuhausen-Nymphenburg aktiv und trägt dazu bei, dass die Münchner heute über diesen Stadtbezirk deutlich mehr wissen als früher. Schröther ist im Stadtteil aufgewachsen, war früher bei der Post und hat in den vergangenen Jahren bei den Stadtteilführungen - 50 bis 60 macht er pro Jahr - Tausende Kilometer durch seinen Stadtbezirk zurückgelegt. "Mit 40 bis 50 Stunden die Woche bin ich ein ehrenamtlich Vollbeschäftigter", sagt er.

Ihm ist wichtig, dass die Geschichte des Stadtteils richtig in Erinnerung bleibt. "Es ist kaum zu glauben, was es für Gerüchte und Legenden über Neuhausen gibt. Und die werden immer weiter veröffentlicht, sogar in Büchern", sagt er. In der im November erscheinenden neuen Publikation der Geschichtswerkstatt widmet er diesem Phänomen daher ein ganzes Kapitel. Darin wird es dann auch um Wolfgang Ranks Lebensweg gehen, der Anfang des 20. Jahrhunderts als "Christus von Neuhausen" bekannt gewesen ist und über den viele Mythen kursieren. "Ich sehe mich nicht als Denkmalschützer, sondern stelle fest", sagt er - bevor er zur nächsten Führung durch die Renatastraße muss.

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