Süddeutsche Zeitung

München:Eine Welt ohne Nachbarn

Der Rechtsanwalt Ernst Seidenberger hat eine Odyssee durch das München der Nazi-Zeit erlebt. Sein Enkel Peter Neumaier widmet ihm nun eine Biografie

Von Jerzy Sobotta

Nach der neunten Seite hört die Schreibmaschinenschrift plötzlich auf. Die letzten Seiten des Briefes verfasst Ernst Seidenberger handschriftlich. Es ist Herbst 1939. Der einst angesehene Rechtsanwalt musste seine Frau und die beiden Töchter verlassen und hat gerade ein Übergangsquartier im ersten Stock an der Elisabethstraße 31 in Schwabing bezogen. Man hat ihn aus den Gerichten verbannt und seine Kanzlei zertrümmert. Seine letzten Kollegen werden nach und nach deportiert. Der Körper des 62-Jährigen ist von der nächtlichen Zwangsarbeit zerschunden. Als er den Brief an seine Familie verfasst, hat sich seine Seele in einen leeren Raum von Schweigen verkrochen. In den Zeilen blickt er zurück auf sein Leben, das sich nun zu runden scheint: "An seinem Ende steht wieder das große Alleinsein."

Als Peter Neumaier den Brief seines Großvaters liest, sind Jahrzehnte vergangen. Einige Kindheitserinnerungen sind geblieben. Sein Großvater, Ernst Seidenberger, hat den Krieg überlebt. Geblieben sind auch die Familiengeschichten, die sich in der Zwischenzeit wie ein Schleier über die historischen Tatsachen gelegt haben. Letztere hat Neumaier in dreijähriger Archivarbeit wieder hervorgeholt, unter grünlich verblichenen Aktendeckeln, auf denen in roter Schrift und in großen Lettern zweimal unterstrichen das Wort "Jude" steht. Anfangs schrieb er das Buch über seinen Großvater nur für die eigene Familie, für seine Neffen. Erst als das Fragment schon fast fertig war, ergab sich die Möglichkeit, es zu veröffentlichen. Die Intimität ist dem Buch geblieben, auch wenn Neumaier einige Formulierungen nachträglich verändert hat. "Wehe dem, der allein ist!", heißt die Biografie seines Großvaters, dessen bürgerlichem Leben durch Anordnungen, Gesetze und die brutale Gewalt der Gestapo-Schergen die Würde genommen wurde. Seidenberger harrte aus im München der Nazis. Bis er am 21. Februar 1945 zusammen mit 31 weiteren Menschen nach Theresienstadt deportiert wurde. Mit dem Transport Nummer II/35, dem letzten, der die Stadt verließ.

Neumaier besitzt noch einen weiteren langen Brief. Den hat Seidenberger 1936 an seine beiden Töchter verfasst. Darin schildert er die eigene Geschichte und den Bruch, der in sein Leben getreten ist. Denn schon seit seiner Kindheit verspürte er mit der Kraft eines Urinstinkts "den Drang in die deutsche Gemeinschaft hinein". Er heiratete eine Protestantin, ließ seine Kinder taufen und trat selbst zum katholischen Glauben über. Als die Ausgrenzung durch die Nazis begann, protestierte Seidenberger. Er berief sich auf seinen Patriotismus, auf das Eiserne Kreuz, mit dem er im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden war. Vor dem Berufsverbot verschonte ihn das nur vorübergehend. 1935 wurden die "Nürnberger Gesetze" erlassen und machten ihn zum Juden, seine beiden Töchter zu "Mischlingen". Dennoch schrieb er ein Jahr später in dem Brief: "Und so bekenne ich mich bis zum letzten Atemzuge zu Deutschland, wie ich mich zum Dreieinigen Gott bekenne. Er bleibt mein Gott, auch wenn er mich schlägt wie Hiob und Deutschland bleibt mein Deutschland, auch wenn es mein Herzblut trinkt und mich ausspeit und mich zum Bettler macht."

Anhand dieser beiden Schriftstücke erzählt Neumaier die Lebensgeschichte seines Großvaters und vieler weiterer Familienmitglieder. Es ist die Geschichte bürgerlichen Glücks, gescheiterter Assimilation und unermesslichen Leids. Neumaier verwendet unzählige Schriftstücke aus dem Nachlass, Dokumente aus den Münchner Archiven, Erzählungen seiner Mutter, die als Heranwachsende alles tat, um in der Unauffälligkeit zu versinken. Wo Dokumente und die Familiengeschichte schweigen, zitiert der Autor behutsam die Zeitgenossen, stellt retrospektive Überlegungen an, ergänzt die Darstellung mit umfassendem historischen Material. Auch Anekdoten kommen zu Wort, etwa, dass Seidenberger nach der Münchner Revolution als Anwalt mit einem von Rilke verfassten Brief den Schriftsteller Oskar Maria Graf aus dem Gefängnis befreite.

Seidenbergers Odyssee durch Hitlers München wird durch die Aufmerksamkeit für lokale Details lebendig. Dort, wo selbst die historische Fachliteratur überschaubar wird, fördert Neumaier durch die sorgsame Recherche neues Material zutage: Er erzählt Seidenbergers Tätigkeit als sogenannter Konsulent. So wurden von den Nazis degradierte "jüdische" Rechtsanwälte genannt, die als Interessenvertreter und Vermögensverwalter der Opfer arbeiteten. Die Gestapo missbrauchte sie, um das Vermögen der Deportierten an sich zu reißen. Nur zwei Konsulenten überlebten den Terror, einer davon war Seidenberger.

Durch den gekonnten Wechsel zwischen Zeitgeschichte und Familiengeschichte gelingt es Neumaier, ein plastisches Bild eines Menschen zu zeichnen, der in absoluter Einsamkeit das Grauen überlebt. Dabei bleibt die Stimme des Autors stets gegenwärtig. Eines Angehörigen, der nicht versucht ist, zu beurteilen, oder gar zu verurteilen - sondern zu verstehen. Warum der Großvater in Deutschland geblieben ist, warum die Mutter zeitlebens auf ihre Stupsnase stolz war und letztlich, wie er selbst, 1949 geboren, unauflöslich mit seiner Familiengeschichte verwoben bleibt. Das Buch ist auch deshalb eine so bereichernde Lektüre, weil sich darin die Metamorphosen der Erinnerungsarbeit dreier Generationen spiegeln. Als Neumaier zu schreiben begann, war er so alt wie der Großvater, als dieser deportiert worden war. Dabei ist er einer Intention gefolgt, die der Großvater in dem Brief an seine beiden Töchter formuliert: "Dass der Himmel sie und die, die nach ihnen kommen, vor dem Bruch bewahren möge, der durch dieses Leben geht."

Peter Neumaier: Wehe dem, der allein ist! Mein Großvater Ernst Seidenberger. Münchner Rechtsanwalt in der NS-Zeit. Hentrich & Hentrich Verlag, 2018. 346 Seiten, 24,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 29.12.2018
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