München:Ein Jahr zwischen Ausnahmezustand und Normalität

Sylvester-Feuerwerk über München

Terroralarm und Amoklauf, Wohnungsnot und Dauerstau - München hat 2016 viel von seiner Selbstsicherheit eingebüßt. Gefragt ist nun eine Vision für die nächsten Jahrzehnte.

Von Frank Müller

Routine hat etwas Beruhigendes, Sicherheit Spendendes an sich, und von daher waren die Münchner vor genau einem Jahr eigentlich in einem Stadium innerer Gelassenheit. Das Silvesterritual nahm seinen Lauf, die Raketen waren bereit gelegt, das Set fürs Bleigießen auch, der Schampus rechtzeitig im Kühlschrank. Dann begannen die Stunden des Jahreswechsels mit Szenen des Terroralarms, gesperrten Bahnhöfen, nervösen Sicherheitskräften in Kampfmontur. Und Politikern, die mühsam den Eindruck erwecken wollten, sie hätten die Lage im Griff. So startete das Jahr 2016 wie noch kein Jahr zuvor in München. Es war der Auftakt zum ungewöhnlichsten Jahr der jüngeren Vergangenheit. Und es markiert gleichzeitig den Weg in eine Gewöhnlichkeit, die für München ebenfalls neu ist.

Ausnahmezustand und Normalität - wie geht das zusammen? Die Silvesternacht, der Amoklauf im Juli - München hat schlimme Vorkommnisse erlebt und noch schlimmere befürchtet. Es gab Stunden, in denen die Stadt ins Chaos glitt. Die Bewohner der Stadt haben sich mit dem Gefühl vertraut gemacht, dass das Grauen von Nizza, Paris, Brüssel, Berlin jederzeit auch ein Münchner Phänomen werden kann. Das latente Bedrohungsszenario wiederum gehört zur neuen europäischen Großstadt-Identität.

Wie schwer es der Stadt fällt, sich darauf einzustellen, haben die Wochen vor dem Oktoberfest gezeigt. Die beiden chaotischen Münchner Nächte, die Terrortaten von Würzburg und Ansbach warfen die Frage auf, wie sich das Münchner Großstadtleben neu organisieren muss. Bei der Wiesn hat das mit Ach und Krach funktioniert. Man unternahm, was einem einfiel, stellte einen Zaun auf und verbot Rucksäcke. Am Ende blieb die Wiesn friedlich, woran viele nicht geglaubt hatten, weswegen sie vorsorglich weggeblieben waren.

In anderen Jahren hätte dies das vertraute München-Gefühl gestärkt, dass hier an der Isar alles Schlimme und alle Unbill dieser Welt bestenfalls in einer gefilterten Version ankommt. Dass das Leben hier im Grundsatz ein beglückendes ist, Katastrophen, Zusammenbrüche, unangenehme Entwicklungen aller Art hier nur einen Hauch ihrer sonst üblichen Wucht entfalten. Und wenn die Welt zusammenbräche, ginge man in München trotzdem ins Tambosi oder zum Franziskaner, abends in die Kammerspiele und am nächsten Tag zum Skifahren in die Berge, zur immerwährenden Pflege der Münchner Lebensart.

Das leuchtende, strahlende München gibt es noch, und es wäre nun ganz falsch, die bayerische Hauptstadt auf das Niveau bedrückender Krisenmetropolen anderswo auf der Welt herunterzureden. Aber: Diese Stadt ist 2016 ein bisschen normaler geworden, sie muss anerkennen, dass sie dieselben Probleme wie andere durchschnittliche Metropolen Europas hat. Der immerwährende Aufstieg Münchens ist kein Selbstläufer mehr.

Das zeigt sich exemplarisch im Tourismus. Die Auslastung Münchner Hotelbetten mag nicht die Kernsorge aller Normalbürger sein, aber der Zustrom aus aller Welt lässt nach. Erstmals seit vielen Jahren sank die Zahl der Übernachtungen, eine neue Erfahrung für eine Branche, die bislang mit unumstößlich scheinenden jährlichen Zuwachsraten verwöhnt war. Weil gleichzeitig neue Hotels im großen Stil entstehen, geraten Angebot und Nachfrage aus den Fugen. Das ist nicht das Ende der Reisemetropole München. Aber es zeigt, dass Trends nicht mehr garantiert nach oben weisen.

In der hoch spezialisierten Wirtschaftsmetropole München gibt es viele solcher Abhängigkeiten. Jeder dritte Euro im Stadthaushalt stammt aus der konjunkturabhängigen Gewerbesteuer. München hat zwar sieben Dax-Konzerne - aber es hängt damit zugleich an deren Tropf und, wie im Falle von BMW, zugleich an der Zukunft einer ganzen Branche. Anders als die Stadtstaaten mit ihren Länderetats lebt die größte deutsche Kommune in einer finanziellen Scheinsicherheit, die sich jederzeit als trügerisch erweisen kann.

Bisher war das Münchner Haushaltsritual in der Regel jenes, dass der Kämmerer kassandraartig vor solchen Risiken warnte - und am Ende die Gewerbesteuereinnahmen überraschend stark stiegen. Nicht nur wegen der problematischeren Weltlage darf sich auf solche Effekte niemand mehr verlassen. Auch die Ausgabefreudigkeit der großen Rathauskoalition, die seit 2014 amtiert, hat dazu beigetragen, dass die Ersparnisse weniger werden und neue Schulden wohl nur eine Frage der Zeit sind. München hat über seine Verhältnisse gelebt.

Das sind die schicksalhaften Münchner Fragen

Zur neuen Normalität, auf die sich die Stadt einstellen muss, gehört auch, dass nicht länger das Wünschenswerte das Maß aller Dinge sein wird. Sondern das Machbare und das Nötige. Die Stadtpolitiker hatten recht hübsche Ideen in den letzten Jahren. Man träumt von einer U-Bahn nach Freiham, einem Ringtunnel unter dem Englischen Garten, einer selbst finanzierten Röhre für die S 8 zum Flughafen. Gleichzeitig werden weitere Tunnel für den Mittleren Ring geplant, und nebenher wird München noch zur Vorzeigemetropole für Elektromobilität. All dies sind vielleicht irgendwie bezahlbare Projekte.

Die großen, schicksalhaften Münchner Fragen sind aber andere: nämlich die des enormen Zuzugs und die, wie er zu bewältigen ist. Konkret: Wo und wie sollen die Hunderttausende wohnen, die in den nächsten 20 Jahren neu in die Region kommen. Und wie werden sie sich von der Wohnung zur Arbeit bewegen, ohne dass das Verkehrsnetz kollabiert?

Es ist nicht so, dass diese Themen in München nicht aufgeschlagen wären. Der Stadtrat beschloss in diesem Jahr das umfassendste kommunale Wohnungsbauprogramm der Republik, es umfasst mehr als eine Milliarde Euro. Und der Freistaat brachte mit Bund und Bahn den Finanzierungsvertrag für die zweite Stammstrecke zustande.

Die Frage ist nur, was diese Programme bewirken. Beim Wohnungsbau entstehen in der Stadt nun Pilotprojekte wie der viel zitierte Stelzenbau beim Dantebad - neues, billigeres Bauen mit abgespeckten Standards. Ein wichtiger Schritt. Aber er wird nicht Zehntausenden Neubürgern zu bezahlbaren vier Wänden verhelfen. Im Nahverkehr sieht es ähnlich aus.

Mit großem Pomp haben alle Beteiligten in diesem Jahr die Zahlungsmodalitäten für die zweite Stammstrecke geregelt. Die Münchner Pendler, die wegen Dauerstaus auf den Straßen und vielen S- und U-Bahn-Störungen zunehmend ungeduldiger werden, haben nun zumindest das Gefühl, es gehe etwas voran. Aber ist das die Antwort auf alle Verkehrsprobleme? Der neue Tunnel, wenn er irgendwann Ende des nächsten Jahrzehnts fertig ist, mag vielleicht manch zusätzlichen Verkehr abfedern. Aber er wird nicht das moderne, komfortable und belastbare System für die Herausforderungen der Zukunft sein, das die Münchner herbeisehnen.

Auch in diesem Sinn wird München in den kommenden Jahren ungemütlicher und damit vielen anderen Metropolen ähnlicher werden. Gefragt wäre also der große Wurf, die Vision für das München von 2040. Wie soll die Stadt verträglich wachsen, lautet die Schlüsselfrage. Es wäre unfair, dem Rathausbündnis alleine anzukreiden, dass es diese Vision nicht gibt. Der Umbruch, vor dem München steht, ist so groß, dass er alle Teile der Stadtgesellschaft angeht.

Das Rathaus hat handwerklich seit dem Amtsantritt von Oberbürgermeister Dieter Reiter und seiner großen Koalition keinen schlechten Job gemacht - abgesehen davon, dass manches immer noch erstaunlich schlecht funktioniert. Etwa im Bürgerbüro rasch einen Termin oder einen neuen Pass zu bekommen. Oder wirklich alle Münchner Schulklassen mit funktionierenden Computern und ordentlichen Räumen auszustatten.

Aber ein großes Projekt, eine Vision für diese Stadt ist bei Schwarz-Rot bisher nicht zu erkennen. Das unterscheidet Reiters Bündnis von den rot-grünen Vorgängern unter Christian Ude und Georg Kronawitter und deren Modell einer sozial-ökologischen Stadterneuerung.

Im Jahr 2016 waren viele Sorgen der Münchner auf die nahe Zukunft ausgerichtet: Was tun gegen die Mieterhöhung? Wie sicher fühle ich mich in der Stadt? Doch das Leben hier wird noch turbulenter, vielleicht schwieriger, vielleicht auch aufregender werden - in einer Stadt zwischen Ausnahmezustand und Normalität.

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