Süddeutsche Zeitung

München:Ein halbes Jahrhundert Inklusion

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Die Schulen der Stiftung Pfennigparade feiern Geburtstag: Vor 50 Jahren eröffnete ihr erster Bau an der Barlachstraße in Schwabing. 1980 wurden auch Jugendliche ohne Behinderung aufgenommen, 2004 errichtete man eine Dependance in Oberföhring - und expandiert weiter

Von Ellen Draxel

Das Lob kommt Franziska leicht über die Lippen. "Ich mag die Schule. Und ich bin sehr froh, dass ich hier bin", sagt die 15-Jährige. Ihre Klassenkameraden, sechs Mädchen und sieben Jungen aus der 7 c der Mittelschulstufe der Ernst-Barlach-Schulen, nicken zustimmend. "Es ist schön, die Lehrer sind echt toll", bestätigen Tobias, Jamila, Luca und Efdal. Armira betont vor allem den Zusammenhalt der Klasse. Sie sitzt im Rollstuhl und verpasst, wenn sie Therapiestunden hat, hin und wieder den Unterricht. "Meine Mitschüler schreiben dann für mich mit und legen mir die Zettel ins Fach."

In der 7 c lernen Schüler mit und ohne körperliche Einschränkungen gemeinsam - wie in allen Schulklassen der Stiftung Pfennigparade. Sie gehen offen aufeinander zu, reagieren tolerant und hilfsbereit. Einmal, als das Thema Inklusion noch relativ neu war, habe man die Kinder und Jugendlichen gefragt, was sie denn voneinander unterscheide, erinnert sich die Schulleiterin der Grund- und Mittelschule an der Barlachstraße, Kerstin Krönner. "Die Antwort war: Einige von uns sind Bayern-Fans, andere nicht." Es ging um Haarfarben oder um Charaktereigenschaften wie "nett oder doof". "Die Aussage aber, manche von uns haben einen Rollstuhl oder eine Spastik und manche nicht, die kam nie", sagt die Rektorin. Ein aus Sicht der Kinder offensichtlich irrelevantes Kriterium.

Seit 50 Jahren prägt die Pfennigparade mit ihren Einrichtungen, Kindern und Lehrern die Barlachstraße.

Dabei ist das Leitbild der Pfennigparade, die Menschen in den Vordergrund zu stellen und ein Miteinander mit und ohne Handicap Normalität werden zu lassen.

In allen Schulklassen der Stiftung lernen Schüler mit und ohne körperliche Einschränkungen gemeinsam - ein Zusammenhalt, den die Schüler selbst oft besonders loben. Fotos: Corinna Guthknecht

Die Schulen der Stiftung Pfennigparade feiern im Herbst 50 Jahre seit ihrer Gründung. Zwar haben sich in diesem halben Jahrhundert Unterricht und Umfang der Förderung körperbehinderter Kinder erheblich verändert, schon aufgrund des technischen und medizinischen Fortschritts - ebenso wie die Schülerzahlen. Geblieben jedoch ist auch im Jubiläumsjahr das Leitbild der Pfennigparade: Menschen in den Vordergrund zu stellen und ein Miteinander mit und ohne Handicap Normalität werden zu lassen.

Der erste Schulbau an der Barlachstraße öffnete im September 1969 seine Pforten. 32 schwerstbehinderte Kinder aller Alters- und Leistungsstufen füllten die beiden Klassenräume: Contergan-geschädigte Schüler, aber auch Mädchen und Jungen, die beatmet werden mussten. Jahre zuvor hatten weltweit Polio-Epidemien grassiert, und Kinder, die nicht mehr zu Hause gepflegt werden konnten, weil sie ohne medizinische Hilfe keine Luft bekamen, hatte man zuvor auf der Station 10 des Schwabinger Krankenhaus behandelt. Dort lagen sie in großen metallenen Beatmungsmaschinen, den "Eisernen Lungen". Sofern es ihr gesundheitlicher Zustand zuließ, bekamen die jungen Patienten im Krankenhaus Unterricht. Von einem normalen Alltag mit ihren Familien aber waren sie weit entfernt.

Das änderte sich, als die Kinder ein der Pfennigparade von der Stadt überlassenes Grundstück in Schwabing beziehen konnten. Ergänzend zu dem Schulhaus waren auf dem Gelände auch 51 behindertengerechte Wohnungen, eine Beatmungsstation und eine Arztpraxis entstanden. Bundesweit damals ein einzigartiges Modell. "Sie gehen den richtigen Weg, die vom Schicksal gezeichneten Kinder und Mitbürger trotz ihren schweren Behinderungen zu einem erfüllten Leben zu führen, ihnen praktische Hilfe zu geben, zugleich aber auch Selbstsicherheit und das Gefühl, dass ihre menschliche Würde genauso ernst genommen wird wie die menschliche Würde aller Menschen", lobte Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel seinerzeit.

Einfach allerdings, weiß Beate Höß-Zenker, hatten es die damalige Grundschulrektorin Ursula Gantenberg, ihr Mittelschul-Kollege Dieter Scheibe und die Gymnasiallehrerin und spätere Schulleiterin der Ernst-Barlach-Realschule, Antonie Vieregg, nicht. "Auf einmal kümmerten sich vorrangig Pädagogen um beatmete Kinder, nicht nur Ärzte und Therapeuten", erläutert die Geschäftsführerin des in Oberföhring beheimateten Bildungsbereichs Phoenix. Andererseits "durften diese Kinder, die bisher nur auf der Intensivstation waren, zum ersten Mal erleben, wie es ist, mit einem elektrischen Rollstuhl über eine Wiese zu hoppeln".

Wichtig zu dieser Zeit war insbesondere eine Person: Hausmeister Günther Schneider. Auf Anforderung zimmerte der Mann für alles Hilfsmittel, um den Schülern das Leben und Lernen zu erleichtern, etwa geneigte Tischplatten oder Stühle für Kinder, damit diese mit den Füßen schreiben lernen konnten. Umgekehrt pfiff Schneider die Schüler an, wenn sie ein Stück Papier fallen ließen - "nach dem Motto: Du hebst das jetzt auf, ob Du behindert bist oder nicht", erzählt der Geschäftsführer der Ernst-Barlach-Schulen, Günther Raß, augenzwinkernd.

Schneider ist es auch zu verdanken, dass Höß-Zenker überhaupt zur Pfennigparade kam - sie las einen Artikel über den Hausmeister und war so begeistert, dass sie Teil dieses kreativen Systems werden wollte. Dass man sich bei der Pfennigparade zu helfen weiß, selbst wenn mal nicht gleich alles hundertprozentig klappt, sei immer noch so, meint Höß-Zenker.

In den folgenden Jahren waren es dann oft die Schüler, die auf Weiterentwicklung drängten. 1972 nahm die Fachoberschule ihren Betrieb auf, vier Jahre später geisterte das Wort "Ghetto" durch das Schulhaus. Mit Erfolg: Es war die FOS, die 1980 erstmals auch Jugendliche ohne Behinderung besuchen durften. "Was heute üblich und gewünscht ist, die Inklusion, war damals revolutionär", sagt der heutige Schulleiter der Real- und Fachoberschule, Roman Hanig. Die FOS wurde zum Vorreiter für die anderen Schulzweige. Mit der Zeit jedoch wurden die Schul-Räumlichkeiten in Schwabing immer beengter, mehrfach baute man um oder an. 1994 bis 1996 entstand das jetzige mehrstöckige Rampengebäude aus Glas, direkt an der Barlachstraße. "Es wurde bewusst so konstruiert", sagt Hanig. Damit schon vom Mittleren Ring aus sichtbar sein sollte: Hier befindet sich eine Behinderteneinrichtung.

2004 errichtete die Pfennigparade dann einen zweiten Schulkomplex in Oberföhring, das Konduktive Förderzentrum der Phoenix GmbH. Es ist spezialisiert auf die Förderung von Kindern mit cerebralen Bewegungsstörungen. Unter dem Dach des Phoenix-Zentrums gibt es ebenso wie an den Ernst-Barlach-Schulen in Schwabing eine Grund- und Mittelschule als Ganztagesangebot mit heilpädagogischer Tagesstätte, Kinderhäuser, eine Schulvorbereitende Einrichtung und zusätzlich noch ein Internat. Nur Realschule und FOS fehlen. 110 Kinder und Jugendliche besuchen die Schulen und Heilpädagogischen Einrichtungen der Phoenix, doch das Schulgebäude, sagt Höß-Zenker, sei "schon wieder zu klein". Das Internat wird daher im Juli 2020 in den Prinz-Eugen-Park umziehen, um Platz für die Schule zu machen. "Außerdem", so die Geschäftsführerin, "überlegen wir, ob wir aufstocken". Die rund 470 Schüler der Ernst-Barlach-Schulen hingegen haben inzwischen genug Platz: Ihr Neubau mit der spiralförmigen Rampe in der Mitte wurde erst vor sechs Jahren vollendet und gilt mittlerweile nicht nur in Fachkreisen als ein Paradebeispiel für das inklusive Miteinander.

Im demnächst beginnenden Schuljahr wird nun erst einmal gefeiert. Die Auftaktveranstaltung zum 50. Geburtstag für geladene Gäste findet am 11. Oktober statt, dann ist auch die Eiserne Lunge zu sehen.

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Quelle:
SZ vom 04.09.2019
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