München:Dieser Mann läuft barfuß - fast überall

Lesezeit: 4 min

Lorenz Kerscher läuft barfuß durch die Stadt - seiner Frau ist das manchmal unangenehm. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Einen Kompromiss musste Lorenz Kerscher mit seiner Frau allerdings treffen.

Von Sarah Beham

Er fühlt sich befreit. Doch die meisten Menschen, die vorbei hetzen, bemerken nicht, dass da etwas anders ist bei Lorenz Kerscher: Er trägt keine Schuhe. Kerscher läuft barfuß durch die Stadt. Ins Konzert geht er ohne Schuhe, er fährt barfuß Auto und Fahrrad und wandert auch schon mal zwei Stunden durch den Schnee. "Durch das Barfußlaufen werden Glückshormone ausgeschüttet, erklärt der 65-jährige Rentner dieses "Lebensgefühl".

Glücklich fühlt sich der Penzberger auch, wenn er in München unterwegs ist - und dort barfüßige Erwachsene und Kinder im Englischen Garten sieht, Volleyballer ohne Schuhe oder Touristen, die ihre nackten Füße im Brunnen am Rindermarkt baumeln lassen. Dann weiß er: "Ich bin nicht allein." In diesen Momenten zeige sich, wie viele Menschen eigentlich barfuß laufen wollten, sagt Kerscher. Doch viele ließen sich von den schrägen Blicken der Schuhträger daran hindern.

Auch Kerschers Frau macht sich so ihre Gedanken - was wohl andere davon halten, wenn ihr Mann ohne Schuhe unterwegs ist. "Sie wird öfter darauf angeredet als ich", sagt Kerscher. Seine Frau bremse ihn manchmal, zeige ihm auch Grenzen auf. "Sie selbst macht nicht mit", sagt Kerscher. Aber sie akzeptiere seine Barfüßerei. Für Restaurant- oder Konzertbesuche haben sie einen Kompromiss gefunden: Drinnen muss Kerscher Flip-Flops anziehen. Draußen auf Terrassen darf er barfuß laufen.

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Doofe Sprüche von Fremden wehrt Kerscher ab: "Haben Sie Ihre Schuhe vergessen?" - "Nein, ich bin so auf die Welt gekommen". "Können Sie sich keine Schuhe leisten?" - "Finanziell ja, gesundheitlich nein." Als kleiner Junge habe er Plattfüße gehabt. Durch das Barfußlaufen nicht mehr. Er spricht von einer besseren Körperhaltung, von der Entlastung von Bandscheiben und Hüften, einer stärkeren Fußmuskulatur und beweglicheren Zehen, von einer verbesserten Durchblutung und warmen Füßen.

Ulrich Pfeiffer ist Orthopäde in München und vom Barfußlaufen überzeugt: "Für die gesamte Statik ist das förderlich. Barfußlaufen war schon bei den Naturvölkern das Gesündeste, was es gab und heute noch gibt". Natürlich komme es auf jeden einzelnen Fuß an. Aber im Kiesbett der Isar barfuß zu laufen, bis zu den Knien im Wasser zu stehen, das sei das Gesündeste für den Menschen und seinen Kreislauf.

Auch andere Kollegen preisen die Vorzüge des Barfußlaufens. Die beste Therapie für viele Fußprobleme sei das, empfiehlt ein TU-Sportorthopäde, und Markus Walther, Chefarzt am Zentrum für Sprung- und Fußgelenkchirurgie der Schön-Klinik in Harlaching, antwortet auf die Frage, welche Schuhe aus orthopädischer Sicht am besten seien: "Ganz einfach, gar keine."

Weil das im Alltag aber eher schwierig umzusetzen ist, trifft man auf Barfußläufer außerhalb von Parks, Spiel- und Sportplätzen eher selten. Wie viele überzeugte Unten-ohne-Fans es in München gibt, kann Kerscher nicht sagen. Aber er ist nicht der einzige. 1998 stieß er auf das Internet-Forum "Hobby? Barfuß!", auf dem sich Gleichgesinnte austauschen. So um die 100 Mitglieder dürften es sein, schätzt Kerscher.

Und wenn es nach ihm geht, sollen es noch mehr werden. Er engagiert sich für Barfußsport, für den Barfußpark beim Streetlife-Festival am Siegestor, und er hat einen Barfußpfad in Penzberg initiiert: mit einem wackeligen Kettensteg, einem Balancierstamm, einer Pflockreihe und Fühlstationen aus Steinen, Holz und Sand. In seinem Buch "Barfuß werden wir beweglicher" beschreibt er auch die Kurse "Fußgymnastik und Barfußturnen", die er schon unterrichtet hat.

Barfußlaufen wertet das Leben auf, Schuhe engen es nur ein. Das hat Kerscher schon als Kind in Würzburg, wo er aufwuchs, gespürt. Zuerst in einer Kleingartenanlage, wo auch die Großeltern eine Parzelle hatten, später dann auf dem Gelände des Ruderclubs und auf Sportplätzen. Seitdem verzichtete er, wann immer es ging, auf Schuhe, auch während seines Chemiestudiums.

Den Weg zu seiner früheren Arbeitsstelle legte er auf dem Rad zurück, ohne Schuhe. Nach einem Jahr hätten die Pförtner ihm dann erklärt, dass es verboten sei, barfuß das Betriebsgelände zu betreten. So habe er Schuhe angezogen, um sie dann im Büro gleich wieder abzulegen.

Pflaster hat Kerscher immer im Geldbeutel, aber Verletzungen sind selten

Von Mai bis September ist er immer barfuß gelaufen. Wie die "normalen Menschen" auch, sagt er. Über die Wintermonate, in denen er Schuhe trug, habe er sein Wahrnehmungsgefühl und seine Beweglichkeit in den Füßen verloren. Dann lief er auch im Oktober barfuß. Und im November. Und auch im Dezember und Januar gab es schöne Tage: "Wenn die Sonne da auf die taufrische Wiese scheint, ohne Klee und ohne Bienen, dann ist das Gras so weich". Seitdem gibt es keinen Tag, an dem er nicht barfuß umherrennt. Und sei es im eisigen Winter nur für ein paar Minuten zur Mülltonne vor dem Haus.

Auch auf Schotter und Kopfsteinpflaster kann Kerscher gehen - ohne Schmerzen. Hornhaut? Kaum. "Ich hab' die best gepflegten Füße!", sagt Kerscher. "Abends creme ich meine Füße mit Hirschtalg ein, für die Feuchtigkeit. Wenn die Haut dann weich ist, feile ich drüber - alle paar Tage". Im Geldbeutel hat Kerscher stets Pflaster dabei - für Glasscherbenverletzungen. Seit Jahren sei er aber in keine Scherbe mehr getreten. "Es ist der Triumph des Barfußläufers, wenn er das Pflaster den Schuhträgern geben kann, die Blasen haben", sagt er und lacht.

Im Forum ist Kerscher aufgefallen, dass viele Frauen mittleren Alters das Barfußlaufen für sich entdecken. Seine Theorie: "Sie sind in der Phase der Selbstfindung, weg von gesellschaftlichen Zwängen, auf dem Weg zu sich selbst." Die Moderatorin Sabrina Fox etwa wurde nach der Lektüre eines Buches über das Barfußlaufen neugierig: Was passiert, wenn man konsequent auf Schuhe verzichtet?

Die Münchnerin ging barfuß - erst einmal für ein Jahr. Sie meldete sich im Forum an, holte sich Tipps von Leuten wie Kerscher. Das war 2014. Heute ist sie immer noch barfuß unterwegs. Egal ob drinnen oder draußen, im Flugzeug, im Restaurant, bei Regen oder Schnee. Auch sie hat ein Buch geschrieben: "Auf freiem Fuß - Ein Jahr ohne Schuhe?". 102 Paar Schuhe hatte sie früher, jetzt braucht sie nicht einmal mehr Socken. "Als Frau erinnern mich Schuhe jetzt an ein enges Korsett!", sagt Fox.

© SZ vom 20.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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