München:Die Würde der kleinen Leute

Die Fotografin Sabine Jörg zeigt in ihrer Schau "Bildergeschichten aus Haidhausen" poetische Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus einer Zeit, als es im Viertel noch Kohlenhändler und Etagenklos gab

Von Johannes Korsche

Eigentlich wollten in den 1970er Jahren alle nach Schwabing. Schwabing war "schick", erinnert sich die Fotografin und Schriftstellerin Sabine Jörg. Aber zum "Schicken" fühlte sie sich noch nie besonders hingezogen. Weder bei der Suche nach Motiven für ihre Fotografien, noch sonst im Leben. Nicht die Schickeria, sondern Arbeiter, Alte und gebrochene Lebensläufe interessieren Jörg. Vielleicht hat sie sich gerade deswegen in Haidhausen "sofort heimisch gefühlt". Damals, 1973, als Sabine Jörg aus dem Ruhrgebiet nach München zog. Sie wollte wissen, "wie sich die Menschen in ihrem Leben und Umfeld einrichten". Vor allem, wenn es ein bisschen dreckiger und ärmer als anderswo ist. Sie findet darauf Antworten in Schaufensterdekorationen, Hinterhöfen und Zufallsbegegnungen auf der Straße. Denn eigentlich geht es Jörg in ihren Fotografien darum, wie Menschen unter widrigen Lebensumständen ihre Würde behalten. "Ja, das ist der Punkt: Würde", sagt sie mit Nachdruck.

Noch bis zum 30. Juni zeigt die Ausstellung "Bildergeschichten aus Haidhausen" in der Werkgalerie im Einstein 28 auf zwei Stockwerken Jörgs eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Haidhausen der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre. Vor allem in den ausgestellten Porträts zeigt sich eine besondere Zuneigung zu den Menschen, die für die Fotografin typisch scheint. "Ich kann nur das fotografieren, was mich emotional berührt", sagt die studierte Sprach- und Wahrnehmungspsychologin. Eine persönliche Bindung zu den Porträtierten, die auch mehrere Jahrzehnte überdauert. "Ich mag ihn heute noch", denkt die Fotografin laut, als sie vor dem Foto eines Bauarbeiters steht. "Er arbeitete damals auf einer Baustelle an der Sedanstraße und hatte sich in seiner Pause gerade Tabak geholt", erinnert sich die 68-Jährige. Sie hat ihn die Milchstraße überqueren sehen, sprach ihn an. So entstand das Foto, das heute in der Ausstellung zu sehen ist. Seine Augen sind zusammengekniffen und von schweren Tränensäcken umrandet, er hat ein warmes Lächeln im Gesicht. Die Brille, wohl gerade für das Foto abgenommen, hält er auf Bauchhöhe in der rechten Hand. In der linken die frische Packung Tabak. Wäre seine Kleidung nicht so dreckig, man könnte ihn für eine Mischung aus Bruno Ganz und Max Frisch halten.

Bildergeschichten aus Haidhausen

Fotografien von Sabine Jörg

Hock di her: (fröhliche) Schafkopfrunde in einem Haidhauser Hinterhof.

(Foto: Sabine Jörg)

"Ich habe die Leute immer gefragt, ob ich sie fotografieren darf", sagt Sabine Jörg. Trotzdem wirkt keines der Porträts gestellt, keine Handhaltung posiert. Eine Wohltat in Zeiten der egomanischen Instagram- und Facebook-Selfies. "Mein Trick ist, immer zu fotografieren, bevor sich die Leute in Szene setzen konnten." Jörg fängt auf diese Weise ganze Persönlichkeiten und Lebensgeschichten ein. Auch weil ihr Blick auf die Umgebung ein besonderer ist. "Ich möchte das Poetische in meinen Bildern herausarbeiten", erklärt sie.

Ein Spagat zwischen Dokumentation und künstlerischem Anspruch ist ihre fotografische Arbeit. Zumal alle Bilder auf analogen Abzügen beruhen und nicht digital nachbearbeitet sind. "Die Bilder haben so eine ganz andere Tiefe und Weichheit - sie sehen eben irgendwie besser aus", erklärt Sabine Jörg. Das Poetische liegt für sie nicht im Motiv selbst, sondern in der Art und Weise, wie sie das Motiv fotografiert, welchen Blickwinkel sie wählt. Die Fotografin sucht dafür "das Detail, das Besondere".

Bildergeschichten aus Haidhausen Fotografien von Sabine Jörg

So viel Zeit muss sein: Eine Haidhauserin mit ihrem Dackel beim Verschnaufen auf einer Bank.

(Foto: Sabine Jörg)

Wie zum Beispiel im Schaufenster des Kohlehändlers Karg an der Preysingstraße, der seine Kohlesorten besonders präsentiert. Jede ist in einer eigenen Schale drapiert. Eine Konditorei präsentiert ihre Kuchen nicht weniger kunstvoll. "Schaufenster interessieren mich besonders", sagt Jörg. Einfach an einem Schaufenster vorbeirennen, wie es so viele Leute tun, das könne sie nicht.

Wie bei einem Mosaik verbinden sich Sabine Jörgs Fotografien zu etwas Größerem, zu einem Portrait Haidhausens der 1970er und frühen 1980er Jahre. Auch weil sich für den Betrachter unweigerlich der Vergleich zum Viertel von heute ergibt. Ein Foto des städtischen Wannen- und Brausebads erinnert zum Beispiel daran, dass viele Haidhauser damals eine Alternative zu den gängigen Etagen-Toiletten herbeisehnten. Heute undenkbar. "Wie ein Sinnbild für Haidhausen" und seine Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten ist für Jörg allerdings ein Foto, das ein Gebäude An der Kreppe zeigt. Wie ein Kartenhaus macht das Haus den Eindruck, als würde es bald in sich zusammenfallen. Der Putz bröckelt ab, die Dachziegel schlagen Wellen, und das Vordach sieht allenfalls provisorisch gedeckt aus. "Heute kann man zwar noch die Architektur, das Haus erkennen", sagt Jörg, "aber wie haben die das so herrichten können?"

Die Frage ist gar nicht vorwurfsvoll gemeint, aus ihr spricht die Bewunderung für so viel Handwerkskunst. Und doch schwingt ein wenig Trauer beim Gedanken an die luxussanierten und geglätteten, sauberen Häuser mit. Denn als sich das Viertel durch die städtische Sanierungsoffensive in den frühen Achtzigerjahren herauszuputzen begann, änderte sich auch die Bevölkerung in Haidhausen. Aus dieser Zeit sind die letzten Bilder der Ausstellung. Denn auch Sabine Jörg zog aus Haidhausen weg. Es war ihr zu schick geworden.

München: Haidhausen ist ihr zu schick geworden: Sabine Jörg

Haidhausen ist ihr zu schick geworden: Sabine Jörg

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Ausstellung "Bildergeschichten aus Haidhausen" ist noch bis 30. Juni täglich von 10 bis 22 Uhr geöffnet. Am Mittwoch, 21. Juni, führt Sabine Jörg von 18 Uhr an durch die Ausstellung. Treffpunkt ist das Foyer im 1. Stock der Werkgalerie im Einstein 28, Einsteinstraße 28. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Der Eintritt ist frei.

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